Goethe: "Die Leiden des jungen Werther"
In 25 Folgen der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Johann Wolfgang Goethes "Die Leiden des jungen Werther".
Von Hanjo Kesting
Das Büchlein "Werther" oder, mit seinem ganzen Titel, "Die Leiden des jungen Werther, ein Roman in Briefen", gehört seit seinem ersten Erscheinen zu den berühmtesten Büchern der deutschen Literatur und war das erste Buch deutscher Sprache, das auch jenseits der deutschen Grenzen sogleich gelesen und berühmt wurde. Goethe war ganze vierundzwanzig Jahre alt, als er diesen mit explosivem Gefühl geladenen kleinen Roman schrieb. Er war der größte Erfolg, den Goethe als Schriftsteller je erlebt hat, und noch lange Zeit heftete sich sein Ruhm vor allem an dieses Buch.
Drei Themen laufen durch die Dichtung hindurch und sind ineinander verschlungen: das psychologische Thema der unglücklichen Liebe; das metaphysische Thema eines Menschen, der an der Unendlichkeit seines Gefühls zugrunde geht; schließlich das gesellschaftskritische Thema, das den unglücklichen Helden in der Enge und Gebundenheit der bürgerlichen Existenz zeigt.
Der Inhalt lässt sich in wenigen Sätzen wiedergeben: Ein junger Mann kommt in eine ungenannte Stadt (hinter der sich Wetzlar verbirgt) und lernt bei einem ländlichen Sommerfest ein Mädchen mit Namen Charlotte kennen, in die er sich verliebt. Er erfährt, dass sie verlobt ist, was sein Gefühl nur umso verzweifelter macht, bis er sich schließlich von ihr losreißt. Nach einiger Zeit treiben ihn seine Liebe und innere Unrast zu ihr zurück, nur um sie als glücklich Vermählte wiederzufinden. Seine Leidenschaft ist unvermindert, geradezu unstillbar, sie verschlingt ihn so völlig, dass alles andere für ihn bedeutungslos wird. Und da seine Liebe hoffnungslos ist und ein Leben ohne Lotte ihm unerträglich erscheint, erschießt er sich schließlich.
Der Briefroman als ideale Form
Goethe hatte den Stoff zunächst in dramatischer Form behandeln wollen, bis er sich für die Briefform entschied. Aber es war der Stoff selbst, der nach der Briefform verlangte, denn sie besitzt den Vorzug, sich auf die subjektive Wahrnehmung des Briefschreibers zu beschränken und ist somit das ideale Medium, um Werthers Streben ins Unendliche und Schrankenlose zu spiegeln. Zugleich lässt sie durchscheinen, dass seine Liebe zu Lotte nur die Verkleidung seiner Todessehnsucht ist. Da die Liebe die stärkste Form seelischer Expansion ist, die wir Menschen kennen, eignet sie sich am besten dazu, das tiefere Verlangen nach dem Tode auszudrücken und den eigenen Untergang zu beschleunigen.
Dass Einiges aus Goethes Biographie in den "Werther" eingeflossen ist, hat Zeitgenossen und Nachwelt dazu verleitet, den Titelhelden mit dem Verfasser zu identifizieren. Doch während Werther sich das Leben nimmt, zog Goethe es vor, den Roman zu schreiben, wobei er den Selbstmord eines braunschweigischen Legationssekretärs namens Jerusalem als Modell benutzte. Einen Bericht über den Tathergang hat er fast wörtlich in seinen Roman übernommen. Dazu gehört auch der Satz, mit dem der Roman endet: "Kein Geistlicher hat ihn begleitet."
Wegbereiter für den Sturm und Drang
Der Überschwang an Gefühl, der das ganze Buch durchdringt, könnte dazu verleiten, die subtile Kunst zu übersehen, mit der hier erzählt wird. Das beginnt mit der Zeitstruktur des Buches, vom Spiel der Jahreszeiten, das die erzählte Geschichte begleitet, bis zu den literarischen Anspielungen, die den Text durchsetzen. Schon zu Anfang werden die Motive von Tod und Selbstmord behutsam entwickelt, und eingewoben in das Buch ist die Geschichte eines Bauernburschen, der aus Liebe zum Mörder wird, so wie Werther aus Liebe Selbstmord begeht. Das alles beweist einen enormen Kunstverstand. Schließlich kann man nicht umhin, die wunderbar frische, lebensvolle, ewig junge Sprache des Buches zu preisen, die der deutschen Literatur ganz neue Räume eröffnet hat für den Ausdruck jugendlich-rauschhaften Gefühls. Der Sturm und Drang hat davon gezehrt, Hölderlins "Hyperion" ist diesem Muster verpflichtet, und noch Büchners "Lenz" gehört in diese Nachfolge.
Viele Zeitgenossen sahen in dem Buch eine Rechtfertigung oder gar Verherrlichung des Selbstmords. Goethe widersprach dieser Deutung, indem er einer späteren Ausgabe die Aufforderung an den Leser voranstellte: "Sei ein Mann, und folge mir nicht nach."