Jutta Heinrich: Ihrer Zeit voraus mit radikal subjektivem Blick
Vor drei Jahren starb die Schriftstellerin Jutta Heinrich in Hamburg, nach einem mutigen und ereignisreichen Leben. Zu ihrer Freundin Heidemarie Ott hat sie mal gesagt: "Du bist Zeugin meines Lebens". Deshalb will Ott an sie erinnern.
Als Jutta Heinrichs Debüt "Das Geschlecht der Gedanken" im Jahre 1977 erschien, war der Roman bereits elf Jahre alt. Jahrelang hatte die Schriftstellerin keinen Verlag gefunden, der das Buch veröffentlichen wollte - zumindest nicht mit ihr als Autorin auf dem Titel. Eine so energische, radikale Literatur aus der Feder einer Frau, das wollten die Verlage ihrer Leserschaft damals nicht zumuten. Hätte sie sich ein männliches Pseudonym zugelegt, dann hätte sie die Wahl zwischen mehreren großen Verlagen gehabt, erzählte Heinrich später. Sie spielte nicht mit und ließ das Buch lieber erstmal in der Schublade, bis sich der feministische Verlag "Frauenoffensive" des Titels annahm.
Heinrichs Debüt: "Das Geschlecht der Gedanken"
In dem Buch rebelliert ein junges Mädchen gegen vorgeschriebene Geschlechterrollen und wehrt sich auf ihre ganz eigene, grausame Art gegen männliche Dominanz und den Chauvinismus der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Sie bestraft dabei nicht nur Männer, sondern auch die Frauen, darunter die eigene Mutter, die es den Unterdrückern allzu leicht machen. "Das Geschlecht der Gedanken" ist bitterböse, analytisch scharf und anders als alles, was damals im deutschsprachigen Raum an feministischer Literatur auf dem Markt war.
Endlich mal ein Buch über die "Rache des Opfers" statt über leidende Frauen, schrieb "Die Zeit" anerkennend. Der Roman wurde ein Erfolg, in mehrere Sprachen übersetzt und verfilmt. Heinrich wurde zu einer wichtigen Wegbereiterin des Feminismus in Deutschland, sie veröffentlichte viele weitere Bücher und Essays, erhielt Preise und Arbeitsstipendien und war gern gesehener Gast in Talkshows, in denen sie auf charmant-humorvolle Art traditionelle Konzepte wie die Ehe kritisch hinterfragte.
Nicht für ein bürgerliches Leben gemacht
"Sie war ihrer Zeit schon immer voraus", sagt Heidemarie Ott, Leiterin des Literaturzentrum Hamburg und langjährige Weg- und Lebensgefährtin Jutta Heinrichs: "Sie hat die großen Fragen von Gender und Sex literarisch, in Form eines magischen Realismus', ins Spiel gebracht. Ihr radikal subjektiver Blick war damals ziemlich neu." Heinrichs Werke seien auch heute immer noch relevant, weil sie sich mit den "grundlegenden Fragen des Menschseins" beschäftigten.
Geboren wurde Heinrich 1940 in Berlin, aufgewachsen ist sie in Bayern als Tochter eines Unternehmers und einer Kunstmalerin und älteste von fünf Schwestern. Nachdem ihre Mutter die Familie für ihren Liebhaber verließ, übernahm Heinrich mit 14 die Sorge um die jüngeren Schwestern und unterstützte ihren Vater in dessen Holzfabrik, die sie später sogar leitete. Dass sie für ein bürgerliches Leben nicht gemacht war, erkannte sie schon in jungen Jahren.
Weltliteratur zwischen Kartoffelsalat und Würstchen
Mit Anfang 20 zog sie nach Hamburg, arbeitete zunächst als Sekretärin - eine Arbeit, die sie als lähmend empfand. Um der Enge zu entkommen, wurde sie Handelsvertreterin und behauptete sich in einem Job, in dem Frauen die Ausnahme waren. Sie genoss die Reisen, die Freiheit, erlebte aber auch immer wieder, wie sie als alleinreisende Frau auf manche Männer provozierend wirkte. Sie ließ sich nicht beirren, machte sich selbständig und war als Unternehmerin erfolgreich, bis sich ihre Liebe zur Literatur durchsetzte und sie beschloss, dass sie nichts anderes tun wollte als zu schreiben.
Sie übernahm einen kleinen Imbiss, um über die Runden zu kommen, und stürzte sich zwischen Kartoffelsalat und Würstchen in die Weltliteratur, las und arbeitete in jeder freien Minute, wie sie Anfang der 1990er-Jahre in einem Dokumentarfilm erzählte. Später, als sie schon ihre eigenen Bücher schrieb, holte sie nebenher ihr Studium nach, studierte erst Sozialpädagogik und dann Literaturwissenschaft und Germanistik.
Ernsthaftigkeit und Humor lagen bei Heinrich dicht beieinander
Auf einer Studentenparty in jener Zeit lernten Jutta Heinrich und Heidemarie Ott sich kennen und lieben. Die beiden Frauen lebten eine Verbindung ganz "ohne Schubladen und Zuschreibungen", gaben einander grenzenlose Freiheit und ein Zuhause zugleich. Rund 40 Jahre lang lebten die beiden zusammen. "Wenn ich mich heute an Jutta erinnere, ist es vor allem ihre Art zu sprechen und ihre Lust, sich mit aktuellen gesellschaftlichen, politischen und philosophischen Fragen zu beschäftigen und sich im Gespräch mit mir, mit ihren Freundinnen und ihren Lesern und Leserinnen auseinanderzusetzen. Ihre Ernsthaftigkeit dabei, aber auch ihr Humor, waren immer spürbar und sichtbar," so Ott im Gespräch mit NDR Kultur.
Zu den Themen, die Heinrich umtrieben, zählten ab Ende der 1970er-Jahre auch die reale Gefahr vor einer atomaren Katastrophe. In "Mit meinem Mörder Zeit bin ich alleine" von 1981 beschrieb sie ihre Ängste nach dem Fast-Atom-Gau in Harrisburg im März 1979. Auf den Reaktorunfall von Tschernobyl reagierte sie ein paar Jahre später mit "Eingegangen" aus dem Jahre 1987, das sich auf ironisch-überspitzte Weise mit dem alltäglichen Wahnsinn in Folge der Katastrophe beschäftigte.
Arbeit mit Jugendlichen erfüllte Jutta Heinrich
Ab Anfang der 2000er-Jahre veröffentlichte Heinrich nicht mehr viel Neues, sondern verschrieb sich der Literaturvermittlung an die jüngere Generation. Sie habe alles gesagt, was ihr wichtig gewesen sei, und wolle sich nicht wiederholen, sagte sie in einem Interview mit einer Tageszeitung anlässlich der Neuauflage einiger ihrer zentralen Werke durch den Fischer Verlag im Jahre 2015. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre diversen Lehraufträge und Schreib-Workshops.
Sie leitete ein interkulturelles Theaterprojekt und initiierte das Langzeitprojekt LIT: Junge Köpfe, eine Schreibwerkstatt für Literaturinteressierte Schülerinnen und Schülern aus allen Stadtteilen Hamburgs. Besonders Letzteres sei ihr enorm wichtig gewesen, sagt Heidemarie Ott. Die Arbeit mit den Jugendlichen habe sie erfüllt und auf ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer sei sie sehr stolz gewesen. Für ihre künstlerischen und kulturellen Verdienste ehrte Hamburgs Senat Jutta Heinrich mit der Senator-Biermann-Ratjen-Medaille, einem der angesehensten Kulturpreise der Stadt.
Jutta Heinrich soll nach ihrem Tod 2021 nicht vergessen werden
Am 23. Juli 2021 starb die Schriftstellerin plötzlich und unerwartet und hinterließ eine schmerzliche Lücke im Leben ihrer Angehörigen und in der Hamburger Literaturszene. Heidemarie Ott will sich dafür einsetzen, dass Jutta Heinrich und ihr Werk nicht vergessen werden: "Ihre Art der Entschiedenheit, ihre Unangepasstheit, ihre Kompromisslosigkeit, die Schärfe ihrer Beobachtungen, ihre schöne Sprache, ihre originellen Formulierungen", all das sei ungewöhnlich und beispielhaft und werde durch ihre Bücher vermittelt. Sie fühle so etwas wie einen "inneren Auftrag", was Jutta Heinrichs geistigen Nachlass betreffe, so Ott: "Jutta hat mal zu mir gesagt, 'ich kenne dich schon so lange, du bist die Zeugin meines Lebens‘ - und das nehme ich sehr ernst."