Eine Frau steht vor einem bunten und gut gefüllten Bücherregal. © Stephan Gabriel Foto: Stephan Gabriel

Jutta Heinrich: Ihrer Zeit voraus mit radikal subjektivem Blick

Stand: 23.07.2024 15:56 Uhr

Vor drei Jahren starb die Schriftstellerin Jutta Heinrich in Hamburg, nach einem mutigen und ereignisreichen Leben. Zu ihrer Freundin Heidemarie Ott hat sie mal gesagt: "Du bist Zeugin meines Lebens". Deshalb will Ott an sie erinnern.

von Yasemin Ergin

Als Jutta Heinrichs Debüt "Das Geschlecht der Gedanken" im Jahre 1977 erschien, war der Roman bereits elf Jahre alt. Jahrelang hatte die Schriftstellerin keinen Verlag gefunden, der das Buch veröffentlichen wollte - zumindest nicht mit ihr als Autorin auf dem Titel. Eine so energische, radikale Literatur aus der Feder einer Frau, das wollten die Verlage ihrer Leserschaft damals nicht zumuten. Hätte sie sich ein männliches Pseudonym zugelegt, dann hätte sie die Wahl zwischen mehreren großen Verlagen gehabt, erzählte Heinrich später. Sie spielte nicht mit und ließ das Buch lieber erstmal in der Schublade, bis sich der feministische Verlag "Frauenoffensive" des Titels annahm.  

Heinrichs Debüt: "Das Geschlecht der Gedanken"

In dem Buch rebelliert ein junges Mädchen gegen vorgeschriebene Geschlechterrollen und wehrt sich auf ihre ganz eigene, grausame Art gegen männliche Dominanz und den Chauvinismus der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Sie bestraft dabei nicht nur Männer, sondern auch die Frauen, darunter die eigene Mutter, die es den Unterdrückern allzu leicht machen. "Das Geschlecht der Gedanken" ist bitterböse, analytisch scharf und anders als alles, was damals im deutschsprachigen Raum an feministischer Literatur auf dem Markt war.

Endlich mal ein Buch über die "Rache des Opfers" statt über leidende Frauen, schrieb die Zeit anerkennend. Der Roman wurde ein Erfolg, in mehrere Sprachen übersetzt und verfilmt. Heinrich wurde zu einer wichtigen Wegbereiterin des Feminismus in Deutschland, sie veröffentlichte viele weitere Bücher und Essays, erhielt Preise und Arbeitsstipendien und war gern gesehener Gast in Talkshows, in denen sie auf charmant-humorvolle Art traditionelle Konzepte wie die Ehe kritisch hinterfragte.  

Sie war nicht für ein bürgerliches Leben gemacht

"Sie war ihrer Zeit schon immer voraus", sagt Heidemarie Ott, Leiterin des Literaturzentrum Hamburg und langjährige Weg- und Lebensgefährtin Jutta Heinrichs: "Sie hat die großen Fragen von Gender und Sex literarisch, in Form eines magischen Realismus, ins Spiel gebracht. Ihr radikal subjektiver Blick war damals ziemlich neu." Heinrichs Werke seien auch heute immer noch relevant, weil sie sich mit den "grundlegenden Fragen des Menschseins" beschäftigten. 

Geboren wurde Jutta Heinrich 1940 in Berlin, aufgewachsen ist sie in Bayern als Tochter eines Unternehmers und einer Kunstmalerin und älteste von fünf Schwestern. Nachdem ihre Mutter die Familie für ihren Liebhaber verließ, übernahm Jutta Heinrich mit 14 die Sorge um die jüngeren Schwestern und unterstützte ihren Vater in dessen Holzfabrik, die sie später sogar leitete. Dass sie für ein bürgerliches Leben nicht gemacht war, erkannte sie schon in jungen Jahren.

Heinrich stürzte sich zwischen Kartoffelsalat und Würstchen in die Weltliteratur

Mit Anfang 20 zog sie nach Hamburg, arbeitete zunächst als Sekretärin - eine Arbeit, die sie als lähmend empfand. Um der Enge zu entkommen, wurde sie Handelsvertreterin und behauptete sich in einem Job, in dem Frauen die Ausnahme waren. Sie genoss die Reisen, die Freiheit, erlebte aber auch immer wieder, wie sie als allein reisende Frau auf manche Männer provozierend wirkte. Sie ließ sich nicht beirren, machte sich selbständig und war als Unternehmerin erfolgreich, bis sich ihre Liebe zur Literatur durchsetzte und sie beschloss, dass sie nichts anderes tun wollte als zu schreiben.  

Sie übernahm einen kleinen Imbiss, um über die Runden zu kommen, und stürzte sich zwischen Kartoffelsalat und Würstchen in die Weltliteratur, las und arbeitete in jeder freien Minute, wie sie Anfang der 1990er-Jahre in einem Dokumentarfilm erzählt. Später, als sie schon ihre eigenen Bücher schrieb, holte sie nebenher ihr Studium nach, studierte erst Sozialpädagogik und dann Literaturwissenschaft und Germanistik.  

Ernsthaftigkeit und Humor lagen bei Heinrich dicht beieinander

Auf einer Studentenparty in jener Zeit lernten Jutta Heinrich und Heidemarie Ott sich kennen und lieben. Die beiden Frauen lebten eine Verbindung ganz "ohne Schubladen und Zuschreibungen", gaben einander grenzenlose Freiheit und ein Zuhause zugleich. Rund 40 Jahre lang lebten die beiden zusammen. "Wenn ich mich heute an Jutta erinnere, ist es vor allem ihre Art zu sprechen und ihre Lust, sich mit aktuellen gesellschaftlichen, politischen und philosophischen Fragen zu beschäftigen und sich im Gespräch mit mir, mit ihren Freundinnen und ihren Lesern und Leserinnen auseinanderzusetzen. Ihre Ernsthaftigkeit dabei, aber auch ihr Humor, waren immer spürbar und sichtbar," so Ott im Gespräch mit NDR Kultur.  

Zu den Themen, die Heinrich umtrieben, zählten ab Ende der 1970er-Jahre auch die reale Gefahr vor einer atomaren Katastrophe. In "Mit meinem Mörder Zeit bin ich alleine" von 1981 beschrieb sie ihre Ängste nach dem Fast-Atom-Gau in Harrisburg im März 1979. Auf den Reaktorunfall von Tschernobyl reagierte sie ein paar Jahre später mit "Eingegangen" aus dem Jahre 1987, das sich auf ironisch-überspitzte Weise mit dem alltäglichen Wahnsinn in Folge der Katastrophe beschäftigte.  

Weitere Informationen
Historische Aufnahme vom oberen Teil eines Reaktordruckgefäßes im KKW "Bruno Leuschner" in Lubmin. Insgesamt waren dort acht Blöcke geplant. © NDR/Populärfilm/BStU Außenstelle Rostock/DEWAG

DDR-Kernkraftwerk Lubmin: Wo die Atomenergie als "sicher" galt

Das Kernkraftwerk "Bruno Leuschner" in Lubmin wurde am 12. Juli 1974 in Betrieb genommen. Atomenergie hielt man damals für sicher. mehr

Arbeit mit Jugendlichen erfüllte Jutta Heinrich

Ab Anfang der 2000er-Jahre veröffentlichte Jutta Heinrich nicht mehr viel Neues, sondern verschrieb sich der Literaturvermittlung an die jüngere Generation. Sie habe alles gesagt, was ihr wichtig gewesen sei, und wolle sich nicht wiederholen, sagte sie in einem Interview mit einer Tageszeitung anlässlich der Neuauflage einiger ihrer zentralen Werke durch den Fischer Verlag im Jahre 2015. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre diversen Lehraufträge und Schreib-Workshops.

Sie leitete ein interkulturelles Theaterprojekt und initiierte das Langzeitprojekt LIT: Junge Köpfe, eine Schreibwerkstatt für Literaturinteressierte Schülerinnen und Schülern aus allen Stadtteilen Hamburgs. Besonders Letzteres sei ihr enorm wichtig gewesen, sagt Heidemarie Ott. Die Arbeit mit den Jugendlichen habe sie erfüllt und auf ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer sei sie sehr stolz gewesen. Für ihre künstlerischen und kulturellen Verdienste ehrte Hamburgs Senat Jutta Heinrich mit der Senator-Biermann-Ratjen-Medaille, einem der angesehensten Kulturpreise der Stadt. 

Jutta Heinrich soll nach ihrem Tod 2021 nicht vergessen werden

Am 23. Juli 2021 starb die Schriftstellerin plötzlich und unerwartet und hinterließ eine schmerzliche Lücke im Leben ihrer Angehörigen und in der Hamburger Literaturszene. Heidemarie Ott will sich dafür einsetzen, dass Jutta Heinrich und ihr Werk nicht vergessen werden: "Ihre Art der Entschiedenheit, ihre Unangepasstheit, ihre Kompromisslosigkeit, die Schärfe ihrer Beobachtungen, ihre schöne Sprache, ihre originellen Formulierungen", all das sei ungewöhnlich und beispielhaft und werde durch ihre Bücher vermittelt. Sie fühle so etwas wie einen "inneren Auftrag", was Jutta Heinrichs geistigen Nachlass betreffe, so Ott: "Jutta hat mal zu mir gesagt, 'ich kenne dich schon so lange, du bist die Zeugin meines Lebens‘ - und das nehme ich sehr ernst." 

Weitere Informationen
Esther Bejarano © dpa Foto: Unger

Esther Bejarano: Das Erbe der Hamburger Holocaust-Überlebenden

In der Nazi-Zeit hatte sie das KZ Auschwitz überlebt, weil sie im Orchester mitspielte. Am 10. Juli 2021 starb Esther Bejarano. mehr

Portrait-Foto von Franz Kafka (schwarz-weiß) © picture alliance / CPA Media Co. Ltd Foto: CPA Media Co. Ltd

Franz Kafkas "Der Prozess" in Am Morgen vorgelesen

Zum 100. Todestag Kafkas liest Peter Matić in 19 Folgen aus dessen Roman "Der Prozess". mehr

Eine Hotelzimmer mit Doppelbett und einer Wand mit Büchertapete. © literaturien

Bücherhotel Literaturien bei Güstrow: Untertauchen zwischen Romanen

Bei Conny Brock in Groß Breesen bei Güstrow dreht sich alles ums Lesen - ein Paradies für Bücherliebhaber. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Kulturjournal | 23.07.2024 | 19:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Neue Bücher 2024: Die spannendsten Neuerscheinungen

Unter anderem gibt es Neues von Dana von Suffrin, Michael Köhlmeier und Bernardine Evaristo. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Zwei junge Frauen schminken sich. © dpa Foto: Daniel Bockwoldt

Taylor Swift spielt in Hamburg: Swifties feiern am Stadion

Heute und morgen tritt US-Popsängerin Taylor Swift im Volksparkstadion auf. Auch vom Regen lassen sich die Fans nicht die gute Laune nehmen. mehr