Joseph Roth: "Radetzkymarsch"
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Joseph Roths "Radetzkymarsch".
Von Hanjo Kesting
Joseph Roth, der Schriftsteller aus Galizien, liebte das sonderbare Staatsgebilde Habsburg-Österreich, das am Ende des Ersten Weltkriegs unterging, noch in seinen Fehlern und Schwächen so innig, wie Thomas Bernhard es später zu hassen vorgab. "Ein grausamer Wille der Geschichte hat mein altes Vaterland zertrümmert", schrieb er im Vorwort zu seinem Roman "Radetzkymarsch". "Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zugleich zu sein."
Zum Inhalt
So wurde Roth zum melancholischen Verherrlicher dieses Vaterlandes, als es sich bereits in seine Bestandteile aufgelöst hatte. Der Roman "Radetzkymarsch" von 1932 ist ein Schwanengesang auf die alte Monarchie und zugleich deren Apotheose. Roth beschreibt darin anhand der Familie Trotta über mehrere Generationen hinweg die letzten sechzig Jahre von Österreich-Ungarn unter dem Kaiser Franz Joseph bis zu dessen Tod mitten im Ersten Weltkrieg. Der Roman setzt ein mit der Schlacht von Solferino 1859, in der die Franzosen und Piemontesen die Österreicher besiegten und den Weg zur Einheit Italiens öffneten. In dieser Schlacht rettet der Leutnant Joseph Trotta dem damals noch jungen Kaiser das Leben. Der Kaiser dankt ihm mit der Verleihung des Maria-Theresia-Ordens, des höchsten Ordens, den das Land zu vergeben hat, und der Erhebung in den Adelsstand.
Der steile Aufstieg entfremdet Joseph von Trotta und Sipolje, wie er nun heißt, seinen Kameraden. Als er einige Zeit später in einem Schulbuch eine Beschreibung der Schlacht von Solferino liest, worin er bereits zur verkitschten Legendenfigur geworden ist, bittet er den Kaiser bei einer Audienz um eine Korrektur. Doch der Kaiser lehnt eine Neufassung ab, woraufhin der "Held von Solferino" seinen Dienst quittiert. Er trägt zwar jetzt den Adelstitel, versucht aber, seinen Sohn, den er nach dem Kaiser Franz Joseph genannt hat, vom Militärdienst fernzuhalten. Dieser wird Bezirkshauptmann in einer kleinen Stadt, wo unter seiner Obhut sein Sohn Carl Joseph aufwächst, der bereits die dritte Generation der Trottas repräsentiert, die Generation der Enkel. Zu seinen prägenden Jugenderlebnissen gehört eine Schulprüfung, bei der der berühmte, von Johann Strauß Vater komponierte Radetzkymarsch gespielt wird.
"Der älteste Kaiser der Welt"
Anders als sein Vater geht Carl Joseph von Trotta zum Militär, aber als Leutnant der k.u.k. Armee verliert er in einem entscheidenden Augenblick die Übersicht, als er bei einer Demonstration streikender Arbeiter seinen Soldaten den Befehl zum Feuern gibt. Die Sache hat ein politisches Nachspiel und zieht immer weitere Kreise, bis sie schließlich dem Kaiser zur Entscheidung vorgelegt wird. Der entscheidet zugunsten von Trotta, in Erinnerung an den Großvater, der ihm einst, ein halbes Jahrhundert zuvor, das Leben gerettet hat. Der Kaiser ist inzwischen ein alter Mann. Im fünfzehnten Kapitel des Buches wird er beschrieben als "der älteste Kaiser der Welt". Er ahnt, dass seinem Reich, in dem so viele Völker und Nationen wohnen, keine politische Zukunft beschieden ist: "Er verbarg seine Klugheit in der Einfalt: Denn es geziemt einem Kaiser nicht, klug zu sein wie seine Ratgeber", heißt es über ihn. In so wunderbaren Sätzen enthüllt Joseph Roth seine Liebe zu diesem alten Kaiser, indem er sie gleichzeitig zu verbergen sucht.
Dann feiert Trottas Regiment ein Jubiläumsfest, und während am Himmel ein Gewitter aufzieht, platzt in die Festlichkeit die Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers in Sarajewo - jenes Ereignis, das den Ersten Weltkrieg auslöst. Unter den Offizieren brechen sogleich die nationalen Gegensätze auf. Ein ungarischer Baron erklärt unverblümt, man könne froh sein, "wann das Schwein hin is". Das Attentat ist nur der Sprengsatz für die schwelenden Nationalismen, die nun zur Entladung kommen und den Untergang des alten Reiches besiegeln. Doch wird dieser Untergang mit einer Hingebung erzählt, als gelte es, von etwas unendlich Geliebtem Abschied zu nehmen. Joseph Roth findet dafür in seinem "Radetzkymarsch" einen wärmenden Ton epischer Verzauberung, der all die makabren Geisterklänge des kommenden Untergangs zu einer schwermütigen Musik verdichtet.