Joseph Conrad: "Herz der Finsternis"
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Joseph Conrads: "Herz der Finsternis"
Von Hanjo Kesting
"Herz der Finsternis" ist das Buch über eine Kongo-Reise und zugleich eine Reise in den Abgrund der Menschheit und der Menschlichkeit. Joseph Conrad veröffentlichte es 1899 in London, aber es brauchte einige Zeit, bis die Leserschaft seine epochale Bedeutung begriff. Es ist das großartig-düstere Portalbuch des zwanzigsten Jahrhunderts, das die Dunkelseite der menschlichen Natur anleuchtet, aber auch die Schattenseite jener westlichen Kultur, der sich Conrad zutiefst zugehörig fühlte.
Zehn Jahre nach Reise in den Kongo entsteht der Roman
Conrad war 1890 an den Kongo gereist, ein knappes Jahrzehnt später entstand sein Roman. Alle Biographen sind sich darin einig, dass er die Befreiung von einem lastenden Druck war, vielleicht sogar die Lösung eines Traumas. Er wurde in knapp zwei Monaten aufs Papier geworfen, in einer Art Schreibrausch. Im Tagebuch notierte Conrad: "Ich habe die Erzählung nur sehr wenig über die tatsächlichen Ereignisse hinausgetrieben, in der Absicht, sie dem Leser existent zu machen…" Das ist eine gute Formel für das Bemühen, vom rein Dokumentarischen zu einer wirklichen Erzählung zu gelangen, einen realen Erlebnisstoff tiefer zu durchdringen und die Wahrheit hinter den Dingen sichtbar zu machen.
"Herz der Finsternis" wird von der ersten bis zur letzten Seite mit der unbeirrbaren Folgerichtigkeit und Sicherheit eines Traumes erzählt; die erlebte oder gelebte Geschichte gewinnt in der literarischen Formung eine Kraft, als handle es sich um eine quasi mythische Begebenheit. Sie führt ins innerste Afrika, ins Herz der Finsternis. Zugleich ist es eine Reise ins Innere des Menschen und zu seinen Ursprüngen, ein Eintauchen in die Welt des Unbewussten, eine Unterweltsfahrt wie Dantes Abstieg in die Hölle.
Terra incognita
Das Innere Afrikas war bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine "terra incognita", bevor der belgische König Leopold II. begann, dort ein eigenes Kolonialreich zu begründen. Auf dem Berliner Kongress 1884 wurde der gesamte Kongo als Privateigentum an den König überschrieben - ein Gebiet, siebzig Mal so groß wie das kleine Königreich, das er in Europa regierte. Urs Widmer, einer der Übersetzer von Conrads Roman, hat diesen Leopold ein "würdig aussehendes Monster in Frack und Zylinder" genannt, und tatsächlich verwandelte er den Kongo in ein koloniales Konzentrationslager. Man geht heute davon aus, dass in der Zeit seiner Herrschaft die Bevölkerung des Landes um die Hälfte reduziert wurde. Zehn Millionen Menschen verloren bei diesem großen, wenig bekannte Menschheitsverbrechen ihr Leben.
Conrads Roman stellt eine fundamentale Kritik an der belgischen Kolonialpolitik am Kongo dar. "Den Eingeweiden des Landes Schätze zu entreißen, das war ihr Verlangen", heißt es einmal. Und an anderer Stelle: "Diese Menschen schienen von keiner hochsinnigeren Absicht geleitet zu werden als Banditen beim Aufbrechen eines Geldschranks." Damit sind die Elfenbeinhändler gemeint, deren verbrecherische Geschäfte Conrad in der Person des Kolonialagenten Kurtz verdichtete, einer Gestalt, die fast bis zum Schluss unsichtbar bleibt und nur wie ein dunkler, langsam anwachsender Schatten durch das Buch gleitet. Ohne als Person deutlichen Umriss zu gewinnen, geht eine unheimliche Fernwirkung von ihm aus. Was sich in seinem finsteren Reich abspielt, wird nur angedeutet. Der Leser kann bestimmten Ahnungen Raum geben, ob es sich um sexuelle Orgien, sadistische Grausamkeiten, Herrschaftsgelüste oder nackte Besitzgier handelt oder um alles zugleich. Er sieht die Schrecken nicht in realer Gestalt, aber das letzte Wort, das Kurtz von sich gibt, heißt "das Grauen", im englischen Original "the horror".
Joseph Conrad schrieb später, er werde den Verdacht nicht los, "das Ziel der Schöpfung könne kein ethisches sein". Diesem Befund kommt keines seiner Bücher so nahe wie "Herz der Finsternis". Der Roman enthält über alle soziale und politische Kritik hinaus eine apokalyptische Dimension. Man hat an Conrad seinen "heroischen Fatalismus" gerühmt. Er besteht darin, dass er dem Chaos, dem Schrecken, der Finsternis ins Gesicht blickt, ohne sich ihm widerstandslos anheimzugeben. "Erst dann", schrieb er, "hat man das Recht, sich einen Menschen zu nennen."