Joris-Karl Huysmans: "Gegen den Strich"
In 25 Folgen der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Joris-Karl Huysmans' "Gegen den Strich".
Von Hanjo Kesting
Das Buch, das 1884 in Paris erschien und damals zuerst seinen köstlichen und sinnverwirrenden Zauber verströmte, trug einen einfachen, anspruchslosen Titel: "À rebours". Es bedeutet so viel wie: "gegen den Strich", durchaus im wörtlichen Sinn, so wie man einen Stoff, ein Tuch gegen den Strich bürstet. Wahrscheinlich wollte der Autor damit andeuten, dass es sich um ein gegenläufiges, unpassendes oder, wie man auch sagt, "unzeitgemäßes" Buch handelte. In Wirklichkeit aber hätte kein Buch zeitgemäßer sein können als "À rebours", "Gegen den Strich". Es war das Buch eines historischen Augenblicks, Inbegriff der Epoche, in der es erschien, zugleich die Geburtsstunde einer neuen literarischen Schule, des Symbolismus. Und sein Autor Joris-Karl Huysmans wurde zum Repräsentanten dessen, was die französischen Zeitgenossen in dem Begriff "décadence" zusammenfassten.
"Décadence" ist ein Wort, das sogleich seinen spezifischen Klang und Sinn verliert, wenn man es in eine andere Sprache zu übersetzen versucht und daraus etwa das deutsche Wort "Dekadenz" bildet. "Décadence" meint etwas anderes: eine verfeinerte, exklusive, raffinierte, möglichst künstliche Lebensform, eben eine Lebensform "gegen den Strich".
Die "Bibel des Ästhetizismus"
Den Namen des Autors Joris-Karl Huysmans muss man noch immer buchstabieren, da er nie in die Vorhölle der allgemeinen Bildung eingedrungen ist, und sein Buch, das unter dem Titel "Gegen den Strich" ins Deutsche übersetzt wurde, hat nie ein breites Publikum erreicht. Doch hat es zu jeder Zeit begeisterte Lesergemeinden erobert. Das hat mit dem literarischen Raffinement des Buches zu tun, das man die Bibel des Ästhetizismus genannt hat.
Der Held Jean Floressas des Esseintes, ein exzentrischer Einzelgänger, richtet sich in Fontenay bei Paris ein Haus ein, eine Art Museum der "décadence", wo etwa Schildkröten mit in die Panzer eingelegten Edelsteinen durch die Räume kriechen und ein geheimnisvolles Licht verbreiten. Es ist eine vollständig künstliche Welt, die es dem Helden erlaubt, wie es einmal heißt, "den Traum von der Wirklichkeit an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen". In langen Erzählpassagen wird der innere Weg des Helden beschrieben, der an der Verfeinerung seiner sinnlichen Sensationen arbeitet und dabei immer weiter in eine Welt des artifiziellen Rausches gelangt.
Zum Autor
Der Autor Joris-Karl Huysmans, geboren 1848 in Paris, arbeitete seit seinem achtzehnten Lebensjahr im französischen Innenministerium. Früh bekannt mit Autoren wie Flaubert, Zola und Maupassant, stand er mit seinen ersten literarischen Arbeiten noch ganz im Bann der naturalistischen Schule, die sich ein möglichst genaues Abbild der Wirklichkeit zum Ziel gesetzt hatte. Bei Huysmans aber überwog das Interesse an der Darstellung immer mehr das Interesse am Dargestellten, bis mit "Gegen den Strich" der Umschlagspunkt erreicht war. Das Buch war ein salto mortale des gewesenen Naturalisten in die ästhetische Dekadenz - es war nur konsequent, daß Huysmans später zum katholischen Glauben übertrat.
Dekadent, vollkommen und skandalös
Mit seinem Buch hat er die stärkste Wirkung auf seine Zeitgenossen ausgeübt, etwa auf einen Schriftsteller wie Oscar Wilde, der es zum Lieblingsbuch seines Romanhelden Dorian Gray machte. "Gegen den Strich" ist ein Roman ohne Handlung, eine psychologische Studie über einen jungen Pariser Aristokraten, der die sinnlichen Geheimnisse und geistigen Ekstasen aller Jahrhunderte nachzuleben versucht. "Das Buch enthielt Metaphern, so monströs wie Orchideen", heißt es bei Wilde, "der schwere Duft des Weihrauchs schien seinen Seiten anzuhaften und das Gehirn zu verwirren." Natürlich liest man "Gegen den Strich" heute mit historischem Abstand, doch das literarische Raffinement des Romans schlägt noch immer in Bann. Unlängst hat sich noch Michel Houellebecq, der interessanteste und meistdiskutierte französische Gegenwartsautor, in seinem Roman "Unterwerfung" auf Huysmans bezogen. "Gegen den Strich" ist ein dekadentes, aber zugleich vollkommenes Buch, skandalös wie ein Leichentuch, in das man sich schon zu Lebzeiten einhüllt.