Buchcover: James Joyce - Ulysses © Anaconda Verlag

James Joyce: "Ulysses"

Stand: 04.01.2016 10:53 Uhr

In 25 Folgen der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um James Joyces "Ulysses".

Von Hanjo Kesting

James Joyce, 1882 - 1941 © picture-alliance
Der Roman "Ulysses" des irischen Autors James Joyce erschien 1922.

Das Werk von James Joyce stand im Zeichen seines Willens zum Universellen. Er wollte sich der Welt in ihrer Totalität bemächtigen: historisch, philosophisch, theologisch, aber auch biologisch und materiell. Der reinste Ausdruck dieses Totalitätsverlangens war der "Ulysses", den Joyce 1922 in Paris veröffentlichte - als Privatdruck mit der Auflage von nur eintausend Exemplaren, aber sogleich umgeben von einer Art Geheimruhm.

Auf den Spuren von Homers Odyssee

Wie schon der Titel andeutet, ist der Roman eine Paraphrase von Homers "Odyssee", wobei die Parallelen zum antiken Epos bis ins Detail ausgesponnen werden. In der Gestalt des Odysseus meinte Joyce einen unerschöpflichen Beziehungsreichtum zu erkennen - seine Irrfahrt war für ihn "Märchen und Kosmos" zugleich, und das blieb sie auch, als er daran ging, Homers episches Universum mit Dubliner Bürgern zu bevölkern. Drei Figuren stehen im Mittelpunkt: der Anzeigenagent Leopold Bloom, seine Frau Molly und der junge Lehrer und Schriftsteller Stephen Dedalus. Unschwer erkennt man dahinter die homerischen Gestalten Odysseus, Penelope und Telemachos.

Epos, Chronik, Reportage und Entwicklungsroman in einem

Joyce hatte die Beschreibung von Leopold Blooms Tageslauf zunächst als kürzere Erzählung angelegt, doch unter der Hand wuchs sie zu etwas Größerem, zu einer universellen Konzeption mit mythischer Fundierung. In siebenjähriger Arbeit wurde aus der Geschichte vom Alltag eines Dubliner Kleinbürgers ein Romanwerk, das an Vielschichtigkeit der Bedeutung, an Differenziertheit der Erzähltechniken, an Motiv- und Symbolfülle in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts einmalig ist. Es ist Epos, Chronik, Reportage und Entwicklungsroman in einem. Hermann Broch sah darin den "Welt-Alltag der Epoche".

Ein Tag in Dublin

Buchcover: James Joyce - Ulysses © Anaconda Verlag
AUDIO: James Joyce: "Ulysses" (5 Min)

Ort der Handlung ist die irische Metropole Dublin, noch unter britischer Herrschaft, an einem einzigen Tag, dem 16. Juni 1904, von acht Uhr früh bis zum nächsten Morgen um etwa drei Uhr. Es ist ein durchaus gewöhnlicher Tag, der für die Bewohner von Dublin weder ein besonderer Freuden- noch Unglückstag ist. Am Morgen wird ein Mitbürger beerdigt, kurz vor Mitternacht ein Kind geboren; um dieselbe Zeit schlägt das Wetter um. Und während draußen der Regen strömt, spricht man in den Kneipen kräftig dem Alkohol zu und erhitzt sich in Gesprächen über Politik und Liebe. Es ist eben ein ganz gewöhnlicher Tag.

Leopold Bloom, der Odysseus dieser modernen Odyssee, wird uns bis in die kleinsten Einzelheiten und geheimsten Regungen enthüllt. Mit Scharfsinn und einzigartiger Präzision dringt der Autor in die Bereiche seines Vor- und Unbewussten ein, so dass man zu Recht gesagt hat, Bloom gehöre zu den am genauesten beschriebenen Charakteren der Literatur. Doch auf den achthundert Seiten des "Ulysses" begegnen wir nicht nur Bloom und den beiden anderen Hauptfiguren, sondern einem ganzen Schwarm von Leuten aus allen gesellschaftlichen Klassen. Der ununterbrochene Strom von Eindrücken, der ihnen durch den Kopf geht, breitet sich bis in alle Einzelheiten vor uns aus, gleich ob vulgär, schmutzig, obszön oder vergeistigt.

Ein Roman ohne Vergleich

Mit seiner planvollen Konstruktion, der Vielzahl an sorgfältig durchgeführten Motiven und der Dichte seiner nahezu musikalischen Faktur ist der "Ulysses" ohne Vergleich. Es gibt darin keine leeren Stellen, keine stumpfen Motive, keine losen Enden im Beziehungsgefüge, vielmehr ist über weite Strecken eine Verdichtung erreicht, wie sie sonst für Lyrik kennzeichnend ist, gipfelnd im großen, interpunktionslosen Schlussmonolog der Molly Bloom. T.S. Eliot schrieb, Joyce habe mit seinem Roman das neunzehnte Jahrhundert endgültig erledigt und die Unzulänglichkeit aller Stile enthüllt: "Wie kann man überhaupt noch schreiben, nachdem diese immense Ungeheuerlichkeit des letzten Kapitels erreicht ist?" Vierzig Jahre später schrieb Arno Schmidt: "Hier ist eine neue Prosaform entwickelt, eine der möglichen neuen Arten, die Welt konform abzubilden. Und mehr: Joyce hat gleichzeitig ein ganz großes Musterbeispiel gegeben, nicht auszulesen bis ans Ende des Angelsächsischen."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur Wissen | 09.02.2016 | 09:20 Uhr

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Romane

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