"Der Verrückte": Spannender Roman des jungen Henning Mankell
Warum erst jetzt ? Warum mussten 44 Jahre vergehen, bis dieser Schlüsselroman des damals 29-jährigen Henning Mankell erst 2021 auf Deutsch verlegt worden ist?
Nun da der schwedische Sozialstaat an seinen Grenzen stößt, legt der Zsolnay Verlag dieses hochaktuelle Meisterwerk des jungen Mankell vor.
Kein Krimi, aber ein spannender Roman
Ein Fremder kommt in eine kleine Stadt. Ein Unbekannter von der Küste taucht in einer namenlosen Marktgemeinde auf. Sein Ende - sein Amoklauf auf dem Rangierbahnhof - wird zu Beginn erzählt.
"Im Traum wirkt Bertil Kras wie ein Verrückter", lautet der erste Satz dieses Romans und der Erzähler geht 19 Jahre in seine Kindheit zurück.
Damals wohnten wir in der Nähe der Bahn. Damals sah ich ihn auf einem Rangierbahnhof, ein Verrückter zwischen rotfarbenen Güterwaggons. Leseprobe
Präzise Beschreibungen steigern die Spannung
Henning Mankell arbeitet die Genese dieses sozialen Todes in einer grausamen Bedächtigkeit heraus, deren präzise Nahaufnahmen die Spannung nur steigern.
Der Bahnhof war in zähflüssige Dunkelheit gehüllt. Die blassgelben Lampen oben auf den rostigen Eisenpfählen vermochten allenfalls dünne, scharfe Lichtpunkte zu bilden, die sachte auf die Gleise und Bahnschwellen fielen. Leseprobe
Bertil Kras heißt der Verrückte. Als verrückt gilt er zunächst, weil keiner seiner Henker versteht - so Mankell in seiner Einleitung - wie er die Stadt betreten hat.
Als Bertil in seiner hungrigen Einsamkeit auf der sonntäglichen Straße der Gemeinde steht, eines Tages im September 1947, ist bereits viel geschehen. Nur ein Beispiel: Fünf Jahre zuvor haben mehrere seiner künftigen Henker blankpolierte Rentiergeweihe an die deutsche Botschaft geschickt, mit guten Wünschen für die Zukunft. Leseprobe
Abgestempelt zum Außenseiter
Kras sucht nach einem Kirchturm mit einem Zifferblatt. Findet keine Uhr. Die Zeit scheint still zu stehen. Das Kriegsgefangenenlager der internierten Kommunisten, die zuvor Arbeitskollegen, Nachbarn waren, gilt als vergessen. Darüber spricht man nicht. Nur eine Lichtung mit Müllhaufen verweist auf die Kollaboration der schwedischen Honoratioren mit den Nazis im Krieg. Dünn wie die Reisigdecke im Kiefernwald ist das Tabu, dass aufrecht erhalten werden muss. Da reicht eine kurze Bemerkung, um es aufzureißen.
"Familienunternehmen sind nicht gutes", sagt Bertil, als er sich im Sägewerk um Arbeit bewirbt. "Es ist falsch, dass eine einzige Familie über so viel Geld und so viele Leute bestimmen kann", fährt Bertil fort. Leseprobe
Womit Bertil Kras zum Außenseiter und zum Sündenbock gestempelt wird. Genussvoll dekliniert der zornige junge Mankell die Etappen dieser Ausgrenzung im Winterwald. Da sind die Kommunisten, die sich kaum von der Schmach ihrer Lagerhaft im Krieg lösen können, da ist Lönngren, der einsame Polizist, der die Kommunisten interniert hat, sich obrigkeitshörig schämt und davon schweigt.
Chronik eines sozialen Mordes
Mankell entrollt die Chronik eines angekündigten sozialen Mordes. Da ist der Kommissar, der für den Brand des Sägewerks keinen Schuldigen finden will, während Bertil Kras allen als Brandstifter gilt. Logisch, dass der Störenfried von Unbekannten ausgegrenzt, verprügelt und mit Bleikugeln beschossen wird. Mankell seziert die Leichen im Keller des schwedischen Wohlfahrtsstaats, eines Palasts, der auf Lügen errichtet worden ist, am Beispiel eines Marktfleckens im Wald.
Was bleibt? Ein Volksheim voller Verdrängungen, in das sich jeder kuschelt, der nicht als Verrückter gelten will. Ein hochaktuelles Meisterwerk, das die virtuose Collagetechnik der Wallander Krimis ebenso enthält, wie seine präzisen Nahaufnahmen. Ein Roman, der die Kehrseite der schwedischen Konsensgesellschaft bloßlegt.
Warum wundert es nicht, dass dieser 1977 in Schweden für kurze Zeit erhältliche Roman erst so spät auf Deutsch erscheint?
Der Verrückte
- Seitenzahl:
- 512 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Zsolnay bei Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3552072497
- Preis:
- 26,00 €