Geschichte der Ehebrecherin Emma Bovary
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Gustave Flauberts "Madame Bovary".
Von Hanjo Kesting
In der Geschichte des Romans nimmt Gustave Flauberts "Madame Bovary" eine besondere Stellung ein. James Wood, Professor für Literaturkritik an der Harvard University, hat es mit den Worten ausgedrückt: "Die Romanautoren sollten Flaubert danken wie die Lyriker dem Frühling. Mit ihm beginnt alles. Es gibt tatsächlich ein Zeitalter vor Flaubert und ein Zeitalter nach ihm. Flaubert hat genau das begründet, was die meisten Leser und Autoren für modernes realistisches Erzählen halten…"
"Mein Gott, warum habe ich nur geheiratet?"
Erzählt wird die Geschichte der Ehebrecherin Emma Bovary, die in einem katholischen Internat für 'höhere Töchter' erzogen worden ist und aus dieser Zeit eine vage, angelesene Romantik-Schwärmerei mitgebracht hat. Um der engen Welt des väterlichen Hofs zu entrinnen, gibt sie dem Werben des Witwers Charles Bovary nach und lässt sich mit ihm nach der Geburt eines Kindes in dem normannischen Dorf Yonville nieder. Was bei ihr zunächst als unbestimmte romantische Sehnsucht erscheint, erweist sich alsbald als brennende Sensualität, auf die der ahnungslose Ehemann verständnislos und selbstzufrieden reagiert. Es dauert nicht lange, bis Emma sich fragt: "Mein Gott, warum habe ich nur geheiratet?" Ihre Enttäuschung ist so groß und geht so tief, dass sie manche Abende im Lehnstuhl verbringt, ohne ein Wort zu sprechen. So wächst die Entfremdung von ihrem Ehemann, bis sie sich schließlich in zwei Liebschaften verwickelt: zuerst mit dem dubiosen Landedelmann Rodolphe, einem provinziellen Routine-Don Juan, der ihrer schon bald überdrüssig ist, danach mit einem jungen Notariatsangestellten in Rouen. Im Laufe dieser Liebesaffären stürzt sie sich, um ihren Liebhabern zu gefallen und sie durch Geschenke an sich zu binden, in Schulden. Sie fällt dem Wucherer Lheureux in die Hände, dem sie im Namen ihres Mannes Wechsel ausstellt. Als diese eingelöst werden müssen und Versteigerung droht, vergiftet sie sich mit Arsen.
Es ist ein schreckliches Finale, dessen Niederschrift Flaubert denkbar schwer wurde: "Ich hatte ich den Geschmack des Arsens so deutlich im Mund und war selbst davon so vergiftet, dass ich mein Abendessen erbrochen habe." Der Bericht belegt die Identifikation Flauberts mit seiner Titelheldin: durch Emmas Geschick nährte er seinen Hass auf die Bourgeoisie und ihr durch phrasenhaftes Geschwätz bemänteltes Streben nach Geld und Gewinn. Vielen Interpreten erscheint Emma Bovary weder als tragische Heldin noch als Verkörperung weiblicher Selbstverwirklichung, vielmehr als Opfer einer trivialen, falschen Romantik, die ihre Phantasie zu Höhenflügen verführt, denen die nüchterne Wirklichkeit einer Provinz-Ehe nicht standzuhalten vermag.
Mühevoller Entstehungsprozess
"Madame Bovary"erschien 1857, nach dreiundfünfzig Monaten mühevoller, angestrengter Arbeit. Dann machte man dem Autor den Prozess: wegen Verstoßes gegen die Moral und die Religion. Flaubert wurde freigesprochen, aber mit Worten voll tückischer Missbilligung. Die Kritik war zurückhaltend. Sainte-Beuve, der berühmte Kritiker, bewunderte zwar "Madame Bovary" aber er beklagte, dass Flaubert, der Sohn eines Arztes, "die Feder führe wie andere das Skalpell".
Man hat von Flaubert gesagt, er habe seinen Roman von der ersten bis zur letzten Seite durchkomponiert und an jeder Seite, ja an jeder einzelnen Zeile gearbeitet wie sonst nur ein Lyriker an jedem Vers eines Gedichts. Tatsächlich ist das Buch von einer überwältigenden künstlerischen Meisterschaft und Makellosigkeit. Es gibt keinen überflüssigen Satz, man kann jede Einzelheit des Buches nachprüfen, ohne enttäuscht zu werden, und manche Beschreibungen besitzen eine Leuchtkraft wie die Gemälde der großen Impressionisten. Die Autoren der nächsten Generation, angeführt von Zola und Maupassant, meinten, die Kunst des Romans habe bei Flaubert endlich ihre Grammatik gefunden; von nun an könne sich der Künstler hinter seinem Werk unsichtbar machen wie der Gott der Schöpfung. Eben das ist der Weg, der bei Flaubert begann: die Kunst um der Kunst willen, die Kunstreligion, gemäß Flauberts Satz: "Die einzige Art, das Dasein zu ertragen, besteht darin, sich an der Literatur wie in einer ewigen Orgie zu berauschen."