Cover: Gustave Flaubert, "Madame Bovary", hanser © hanser

Geschichte der Ehebrecherin Emma Bovary

Stand: 05.07.2016 15:29 Uhr

In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Gustave Flauberts "Madame Bovary".

Von Hanjo Kesting

Cover: Gustave Flaubert, "Madame Bovary", hanser © hanser
"Mein Gott, warum habe ich nur geheiratet?", fragt sich Emma Bovary, Heldin von Flauberts Roman "Madame Bovary".

In der Geschichte des Romans nimmt Gustave Flauberts "Madame Bovary" eine besondere Stellung ein. James Wood, Professor für Literaturkritik an der Harvard University, hat es mit den Worten ausgedrückt: "Die Romanautoren sollten Flaubert danken wie die Lyriker dem Frühling. Mit ihm beginnt alles. Es gibt tatsächlich ein Zeitalter vor Flaubert und ein Zeitalter nach ihm. Flaubert hat genau das begründet, was die meisten Leser und Autoren für modernes realistisches Erzählen halten…"

"Mein Gott, warum habe ich nur geheiratet?"

Erzählt wird die Geschichte der Ehebrecherin Emma Bovary, die in einem katholischen Internat für 'höhere Töchter' erzogen worden ist und aus dieser Zeit eine vage, angelesene Romantik-Schwärmerei mitgebracht hat. Um der engen Welt des väterlichen Hofs zu entrinnen, gibt sie dem Werben des Witwers Charles Bovary nach und lässt sich mit ihm nach der Geburt eines Kindes in dem normannischen Dorf Yonville nieder. Was bei ihr zunächst als unbestimmte romantische Sehnsucht erscheint, erweist sich alsbald als brennende Sensualität, auf die der ahnungslose Ehemann verständnislos und selbstzufrieden reagiert. Es dauert nicht lange, bis Emma sich fragt: "Mein Gott, warum habe ich nur geheiratet?" Ihre Enttäuschung ist so groß und geht so tief, dass sie manche Abende im Lehnstuhl verbringt, ohne ein Wort zu sprechen. So wächst die Entfremdung von ihrem Ehemann, bis sie sich schließlich in zwei Liebschaften verwickelt: zuerst mit dem dubiosen Landedelmann Rodolphe, einem provinziellen Routine-Don Juan, der ihrer schon bald überdrüssig ist, danach mit einem jungen Notariatsangestellten in Rouen. Im Laufe dieser Liebesaffären stürzt sie sich, um ihren Liebhabern zu gefallen und sie durch Geschenke an sich zu binden, in Schulden. Sie fällt dem Wucherer Lheureux in die Hände, dem sie im Namen ihres Mannes Wechsel ausstellt. Als diese eingelöst werden müssen und Versteigerung droht, vergiftet sie sich mit Arsen.

Es ist ein schreckliches Finale, dessen Niederschrift Flaubert denkbar schwer wurde: "Ich hatte ich den Geschmack des Arsens so deutlich im Mund und war selbst davon so vergiftet, dass ich mein Abendessen erbrochen habe." Der Bericht belegt die Identifikation Flauberts mit seiner Titelheldin: durch Emmas Geschick nährte er seinen Hass auf die Bourgeoisie und ihr durch phrasenhaftes Geschwätz bemänteltes Streben nach Geld und Gewinn. Vielen Interpreten erscheint Emma Bovary weder als tragische Heldin noch als Verkörperung weiblicher Selbstverwirklichung, vielmehr als Opfer einer trivialen, falschen Romantik, die ihre Phantasie zu Höhenflügen verführt, denen die nüchterne Wirklichkeit einer Provinz-Ehe nicht standzuhalten vermag.

Mühevoller Entstehungsprozess

"Madame Bovary"erschien 1857, nach dreiundfünfzig Monaten mühevoller, angestrengter Arbeit. Dann machte man dem Autor den Prozess: wegen Verstoßes gegen die Moral und die Religion. Flaubert wurde freigesprochen, aber mit Worten voll tückischer Missbilligung. Die Kritik war zurückhaltend. Sainte-Beuve, der berühmte Kritiker, bewunderte zwar "Madame Bovary" aber er beklagte, dass Flaubert, der Sohn eines Arztes, "die Feder führe wie andere das Skalpell".

Cover: Gustave Flaubert, "Madame Bovary", hanser © hanser
AUDIO: Gustave Flaubert: "Madame Bovary" (5 Min)

Man hat von Flaubert gesagt, er habe seinen Roman von der ersten bis zur letzten Seite durchkomponiert und an jeder Seite, ja an jeder einzelnen Zeile gearbeitet wie sonst nur ein Lyriker an jedem Vers eines Gedichts. Tatsächlich ist das Buch von einer überwältigenden künstlerischen Meisterschaft und Makellosigkeit. Es gibt keinen überflüssigen Satz, man kann jede Einzelheit des Buches nachprüfen, ohne enttäuscht zu werden, und manche Beschreibungen besitzen eine Leuchtkraft wie die Gemälde der großen Impressionisten. Die Autoren der nächsten Generation, angeführt von Zola und Maupassant, meinten, die Kunst des Romans habe bei Flaubert endlich ihre Grammatik gefunden; von nun an könne sich der Künstler hinter seinem Werk unsichtbar machen wie der Gott der Schöpfung. Eben das ist der Weg, der bei Flaubert begann: die Kunst um der Kunst willen, die Kunstreligion, gemäß Flauberts Satz: "Die einzige Art, das Dasein zu ertragen, besteht darin, sich an der Literatur wie in einer ewigen Orgie zu berauschen." 

Übersicht
Antike Bücher © Fotolia.com Foto: LeitnerR

Große Romane der Weltliteratur - Staffel 1

Hanjo Kesting streift durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. 25 Klassiker, die nicht nur spannend sind, sondern auch Leselust garantieren. mehr

Antike Bücher © Fotolia.com Foto: LeitnerR

Große Romane der Weltliteratur - Staffel 2

Hanjo Kesting streift auch in der 2. Staffel durch die Geschichte und Geschichten der Romane. 25 Werke, die nicht nur gut geschrieben, sondern auch Klassiker ihres Genres sind. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur Wissen | 13.09.2016 | 09:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Bücher 2024: Das waren die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gab es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Simone Paganini, italienischer Theologe © Vandory

Von wegen Heilige Nacht! Simone Paganini widerlegt die Weihnachtsgeschichte

Der katholische Theologe macht einen Faktencheck und zeigt: An der Weihnachtsgeschichte ist so gut wie nichts wahr. mehr