Bedeutendster britischer Roman: "Middlemarch"
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um George Eliots: "Middlemarch".
Von Hanjo Kesting
Vor mehr als dreißig Jahren besuchte ich den Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer, der gerade seinen Roman "Marbot" veröffentlicht hatte, an seinem Wohnort Poschiavo in Graubünden. Im Gespräch über den Roman als literarische Kunstform nannte er "Middlemarch" von George Eliot den "größten Roman, der je geschrieben worden sei". Meine Verlegenheit war nicht gering, denn ich kannte das Buch nicht, holte die Lektüre aber unverzüglich nach, tief beeindruckt von der kritischen Meisterschaft der Gesellschaftsschilderung und speziell der Rolle der Frau in dieser Gesellschaft.
George Eliots Laufbahn als Literatin
George Eliot, mit eigentlichem Namen Mary Anne Evans, gehört in die Reihe großer englischer Schriftstellerinnen, die von Jane Austen über die Schwestern Brontë bis zu Virginia Woolf führt. Sie wurde 1819 als Tochter eines Gutsverwalters in Warwickshire geboren und war eine Jahrgangsgenossin von Gottfried Keller, Theodor Fontane und Herman Melville. Früh geriet sie in den Umkreis liberaler Freidenker und löste sich aus der religiösen Orthodoxie, indem sie etwa Ludwig Feuerbachs Buch "Das Wesen des Christentums" übersetzte. Durch ihre offen geführte Liebesbeziehung zu dem Schriftsteller George Henry Lewes skandalisierte sie die viktorianische Gesellschaft ihrer Zeit. Sie war fast vierzig Jahre alt, als sie sich der Literatur zuwandte und unter dem männlichen Pseudonym George Eliot, das sie fortan beibehielt, ihre erste Erzählung publizierte. In rascher Folge entstanden danach drei Romane, die alle erfolgreich waren und ihren Namen bekannt machten. Sie griff darin philosophische und sozialpolitische Themen auf, die aufgrund der mutigen und zuweilen revolutionären Ideen der Autorin nicht überall auf Zustimmung stießen. So war ihre Laufbahn als Schriftstellerin ein Weg durch die Dornenhecke moralischer Missbilligung und literarischer Geringschätzung, ein Weg, der, wie Hans Mayer schrieb, "weniger mit Glanz zu tun hatte als mit mühsam gebanntem Skandal". Es war vor allem der Erfolg beim Lesepublikum, der George Eliot den Weg bahnte auf die Höhen der Literatur und zurück in die Arme der Gesellschaft. Für ihren Roman "Romola" erhielt sie noch zu Lebzeiten von Dickens und Thackeray das höchste Honorar, das in England jemals für ein Buch gezahlt worden war, und bei ihrem Tod 1880 hinterließ sie ein gewaltiges Vermögen.
Zum Inhalt des Romans
Der Roman "Middlemarch" von 1874 gilt als George Eliots Meisterwerk. In mehreren Handlungssträngen wird das Leben in einer fiktiven englischen Kleinstadt beschrieben, hinter der sich Coventry verbirgt, um das Jahr 1830, in der Zeit der großen Industrialisierung. Im Zentrum des Buches steht die junge Dorothea Brooke, eine Tochter aus gutem Hause, naiv, schwärmerisch, begeisterungsfähig, erfüllt von dem Wunsch, Gutes zu tun und in die Welt des Geistes einzudringen. Man kann darin, um es mit einem späteren Ausdruck zu sagen, einen frühen Versuch weiblicher Selbstverwirklichung sehen. Ihr gegenübergestellt ist Tertius Lydgate, ein begabter angehender Arzt, der die Situation der Medizin in England verbessern will, dabei aber rasch auf Widerstände stößt. Um diese beiden Zentralfiguren gruppiert sich eine Reihe von unvergesslichen Gestalten, die ein facettenreiches Bild der englischen Gesellschaft ergeben. Die untergeordnete Stellung der Frau ist dabei ein durchgehendes, wenn auch meist nur indirekt intoniertes Motiv. George Eliot hielt sich an die Maxime, dass der größte Gewinn, den wir einem Buch verdanken, in der Erweiterung unserer Sympathien liegt.
Lob von Virginia Woolf
Virginia Woolf schrieb ein halbes Jahrhundert später über "Middlemarch", dieses "großartige Buch" gehöre zu den wenigen englischen Romanen, "die für erwachsene Menschen geschrieben sind". Weitere hundert Jahre später wurde "Middlemarch", wie zur Bestätigung des Urteils von Wolfgang Hildesheimer, bei einer Umfrage unter namhaften internationalen Literaturkritikern zum bedeutendsten britischen Roman überhaupt gewählt. Er endet mit dem bewegenden Satz: "Denn wenn das Gute wächst in der Welt, dann liegt es teilweise an Taten, die nicht in den Geschichtsbüchern stehen; und dass es um dich und mich nicht so schlecht steht, wie es sein könnte, verdanken wir zur Hälfte der großen Zahl, die zuversichtlich ihr Leben im Verborgenen führten und in Gräbern ruhen, die niemand besucht."