"Erleben Renationalisierung so gut wie aller EU-Mitgliedsstaaten"
Derzeit stehe es nicht gut um Europa, sagt der Schriftsteller Robert Menasse. Im Interview spricht er von unproduktiven Widersprüchen der Mitgliedsstaaten und sagt, es gehe in der EU nicht um die Verteidigung nationaler Interessen.
Der Autor von Romanen wie "Die Hauptstadt" und "Die Erweiterung" macht sich vor der Europawahl einige Sorgen. Sein aktuelles Buch heißt "Die Welt von morgen", der Titel spielt auf Stefan Zweig an und dessen Buch "Die Welt von gestern" über das Europa im Jahr 1914.
Was ist denn Ihre Prognose für die Welt von morgen? Der Untertitel des Buches ist "Eine Streitschrift für das Friedensprojekt Europa" - also wird es ein souveränes demokratisches Europa in Zukunft noch geben, oder?
Robert Menasse: Das wäre wünschenswert. Das Projekt der Einigung Europas, die Idee, ein nach-nationales Europa zu schaffen, ist Folge der historischen Erfahrungen, die wir mit dem Nationalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa machen mussten - und das Projekt hat auch weit getragen. Nur es stockt jetzt, hat innere, unproduktive Widersprüche, und wir erleben jetzt eine Situation, in der niemand abschätzen kann - natürlich auch ich nicht -, ob jetzt die Europäische Union daran scheitern wird, es sie zerreißen wird, oder ob wir vorankommen mit diesem Friedens- und Wohlstands- und Freiheitsprojekt, so wie die Europäische Union intendiert war.
Der Widerspruch, den wir erleben, ist ganz einfach in einem Satz zusammenzufassen: wir haben bewusst in Europa aufgrund der Erfahrungen mit Nationalismus ein nach-nationales Projekt der begonnen, eine nach-nationale Entwicklung mit supranationalen Institutionen, Gemeinschaftspolitik und so weiter. Wir erleben jetzt die Renationalisierung von so gut wie allen Mitgliedsstaaten - und das ist ein unproduktiver Widerspruch. Man kann nicht eine nach-nationale Entwicklung gestalten und gleichzeitig der Renationalisierung nachgeben. Es gibt da keinen Kompromiss. Das ist so unmöglich wie schwanger oder nicht schwanger, da gibt es auch nicht den Kompromiss "ein bisschen schwanger". Das heißt die Entscheidung wird in den nächsten fünf Jahren fallen müssen.
Kommt diese Nationalisierung nur von rechts oder kommt sie nicht mittlerweile auch schon aus der Mitte?
Menasse: Sie hat von der Mitte aus begonnen. Es ist ja nicht so, dass irgendwelche rechten Ränder plötzlich so machtvoll wurden, dass die da vordringen konnten, in die Mitte und die Mitte im Handstreich nehmen, sondern es hat in der Mitte begonnen und ist dann von Rechts außen radikalisiert zurückgekommen. Der Grund liegt in einem Konstruktionsfehler der Europäischen Union.
Wir haben eine Union, in der die nationalen Staats- und Regierungschefs eigentlich das Sagen haben. Wir können eine europäische Volksvertretung wählen, ein super-nationales Parlament, können es aber nur auf nationalen Listen. Alle Kandidaten glauben, sie müssen irgendwas nationales Versprechen: etwa ein starkes Deutschland in der EU. Darum geht es aber im Parlament nicht. Es geht um Gemeinschaftsrecht. Dann haben wir die Kommission, die für Gemeinschaftspolitik zuständig ist, aber die Kommissionspräsidentin wird von den nationalen Staats- und Regierungschefs bestimmt, und die Kommissare werden von den Nationalstaaten nominiert. Und dann haben wir den Rat, das ist überhaupt die Wagenburg der Verteidigung nationaler Interessen – und so stoßen die Gemeinschaftspolitik und die Weiterentwicklung der Europäischen Union immer wieder an nationale Grenzen.
Viele Politiker und Politikerinnen sagen, sie seien leidenschaftliche Europäer. Das heißt, wenn es an die Wahl geht, wäre es gut drauf zu achten, wer sich für ein gemeinsames Europa einsetzen würde?
Menasse: Ja, natürlich. Die Frage muss sich jeder stellen, auch wenn ich selbst bei sogenannten pro-europäischen Parteien die Muttermale des Nationalismus sehe. Wenn man sich die deutschen Wahlplakate anschaut, geht es immer um Deutschland in Europa. Doch darum geht es in Wirklichkeit nicht. Das Parlament ist keine Versammlung von nationalen Delegierten zur Verteidigung nationaler Interessen. Man muss das endlich einmal klarmachen: Das Europäische Parlament hat die Aufgabe, Gemeinschaftsrecht herzustellen. Und was gut ist für einen Deutschen, muss auch gut sein für einen Portugiesen, für einen Österreicher, für einen Tschechen und so weiter. Und wenn es nur für Deutsche gut ist, dann muss man sich mal fragen: Ist das überhaupt vorstellbar? Und ist das für allen anderen europäischen Bürgern und Bürgerinnen überhaupt wünschenswert?
Sind denn aus Ihrer Sicht Künstler, Intellektuelle, vielleicht Schriftsteller, Autorinnen zu still, was Europa angeht?
Menasse: Manche sind zurecht still, weil sie sich auch nicht auskennen. Ich beobachte, dass parallel zur Renationalisierung der Politik in Europa eine Renationalisierung der literarischen Anstrengungen stattfindet. Ich habe noch nie so viel Nationalliteratur in Deutschland in den Rezensionen der klugen Feuilletons erlebt wie in den letzten Jahren - also der hundertste Roman über den Mentalitätsunterschied zwischen Ost und West, ein Westdeutscher verliebt sich in eine Ostdeutsche - mich interessiert das nicht mehr. Ich bin froh, dass die, die solche Romane schreiben, sich gar nicht zur EU äußern.
Das Interview führte Philipp Schmid.