Stand: 07.09.2017 14:50 Uhr

"Querschnittsmaterie" Schwein

von Alexander Solloch
Robert Menasse: "Die Hauptstadt" (Buchcover) © Suhrkamp
Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren. Er studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft. 1980 promovierte er zum Dr. phil.

Darin scheint man sich so einigermaßen einig zu sein im Literaturbetrieb: Es gibt keinen Neuschnee, alles ist, in Variationen, schon einmal erzählt worden. Dachte man, bis jetzt. Doch da kommt Robert Menasse und wagt tatsächlich etwas ganz Neues: den großen Roman über Brüssel, über die EU und ihre Institutionen, über Europa. "Die Hauptstadt" heißt das buchpreisnominierte neue Werk des österreichischen Schriftstellers, der solche nationalen Zuschreibungen allerdings gar nicht gern hört, weil er die Nationalstaaten längst für überflüssig hält. Also: Der europäische Autor Menasse schreibt einen europäischen Roman.

Am Anfang ist das Schwein. Es läuft durch die Straßen, man wundert sich sehr. Wo kommt es her? Wo will es hin? Niemand weiß es. Aber: Hier, in Brüssel, hat es eine klare Funktion. Es ist "Querschnittmaterie", weil es von der Aufzucht über die Schlachtung bis hin zum Export unterschiedlichsten Generaldirektionen der Europäischen Kommission gehört.

Brüsseler Bürokraten und ein Schwein

Das Schwein ist aber seit Neuestem auch Dramaturgiematerie, weil es bei seinem Gang durch Brüssel an so vielen verblüfften Menschen vorbeieilt, die der Erzähler auf diese Weise alle nacheinander und sehr elegant vorstellen kann. Ursprünglich hatte Robert Menasse ja am Beispiel eines EU-Beamten vom Geschehen in der Brüsseler Bürokratie erzählen wollen; jetzt hat er - und da ist das Schwein noch gar nicht mitgerechnet - acht oder neun Hauptfiguren.

"Weil man das, was geschieht in Brüssel und in den europäischen Institutionen nicht anhand einer Figur erzählen kann, denn das Charakteristische und Wesentliche ist ja das Babylonische in Brüssel: also die vielen Sprachen, die vielen Mentalitäten, die vielen Arbeitsebenen, die Widersprüche, hinter denen konkrete Menschen immer stehen. Das ist ja nicht nur ein institutioneller Widerspruch. Der wird durch Menschen vertreten und verschärft und betrieben", sagt Robert Menasse.

"Martin Susmann saß am Schreibtisch, den Laptop hatte er zur Seite geschoben, und drückte aus zwei verschiedenen Tuben Senf auf einen Teller, einen scharfen englischen und einen süßen deutschen, und fragte sich, wer den Senf erfunden hat. Wer ist auf diese schrullige Idee gekommen, eine Paste zu produzieren, die den Eigengeschmack einer Speise völlig überdeckt, ohne selbst gut zu schmecken? Das Anstarren von Senf auf einem Teller, während in der Pfanne eine Wurst verbrennt, ist in der Fachliteratur noch nicht als eindeutiges und typisches Symptom für eine Depression beschrieben worden - dennoch können wir es als solches interpretieren." Leseprobe

Anschauliche, skurrile Protagonisten

Leser, die zu übertriebener Sorge neigen, könnten vielleicht vermuten: Oh weh, der Europa-Enthusiast Menasse schreibt einen Europa-Roman, was kann das schon werden? Ein Aufmarsch fröhlicher Pappkameraden wahrscheinlich, die siegreich für unser aller Wohl streiten und das Ende des Nationalismus erfechten.

So zu denken hieße aber natürlich, Menasses Scharfsinn und erzählerische Kraft allzu gering zu achten, und: seinen erzählerischen Anspruch. "Es soll etwas haben im Sinne dieser Forderung von Balzac, der gesagt hat: Wir müssen so erzählen, dass die Zeitgenossen sich erkennen und Spätere uns verstehen", so Menasse.

Hingabe für eine sogleich zerschredderte Idee

Natürlich ist es eine Geschichte vom Scheitern, die Menasse vor uns ausbreitet, ein bisschen resignativ nur und dann auch wieder anspornend: Martin Susmann, der beinahe depressive EU-Beamte, erarbeitet mit Hingabe einen Plan für einen Festakt zum 60. Geburtstag der Kommission - und kann nicht verhindern, dass die Idee in anderen Abteilungen zerschreddert wird. Kriminalkommissar Brunfaut darf den Mord im Hotel Atlas, einen offensichtlichen Terrorakt, nicht aufklären - von höchster Stelle wird ihm der Fall entzogen. Vor den Mitgliedern eines sogenannten Think Tanks, deren Vision von Europa sich auf das Wiederkäuen der ewigen Wirtschaftswachstums-Fantasien beschränkt, hält Professor Alois Erhart seine letzte folgenlose Rede:

"Europa muss eine neue Hauptstadt bauen. Es muss ein Ort sein, wo die Geschichte spürbar und erlebbar bleibt, auch wenn der letzte gestorben ist, der sie erlebt oder überlebt hat. Ein Ort als ewiges Fanal für die künftige Politik. Erhart sah in die Runde. Gab es jemanden, der schon ahnte, was nun kommen würde? Dana lächelte und blickte ihn neugierig an. Stephanides schaute betont gelangweilt zum Fenster. Pinto sah auf die Uhr. Aber zehn Sekunden später starrten sie alle Erhart mit offenen Mündern an." Leseprobe

Seine kühne, radikale Europa-Idee muss, wie alle großen Ideen, zunächst natürlich auf Ablehnung stoßen. Aber die Geschichte geht ja weiter. "À suivre", "Fortsetzung folgt" - so endet der Roman. Und es stimmt ja auch, so oder so: Wir alle schreiben mit an dieser Geschichte von Europas Möglichkeiten. Menasse öffnet uns dafür die Augen - und die Ohren, mit denen wir irgendwo hinter uns ein Grunzen hören, das uns, frei übersetzt vom Schweinischen ins Deutsche, sagt: Komm mit, ich zeig‘ dir was!

Die Hauptstadt

von Robert  Menasse
Seitenzahl:
459 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Suhrkamp
Bestellnummer:
978-3-518-42758-3
Preis:
24,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 08.09.2017 | 12:40 Uhr

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Romane

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