Ein Ausdruck von Ohnmacht: Warum wir wütend werden
Wut entsteht, wenn wir uns hilflos fühlen, sagt der Philosoph Jürgen Werner. Im Gegensatz zum Zorn sei Wut nicht zielgerichtet. Dennoch möchte Werner auf wütende Menschen nicht verzichten, erklärt er im Podcast Tee mit Warum.
Wut ist ein Gefühl, dass wir alle kennen. Manche lassen ihrer Wut freien Lauf, andere unterdrücken sie. Wütende Menschen fühlen sich ohnmächtig und agieren im Gegensatz zu den Zornigen nicht vernunftgesteuert, meint Jürgen Werner, der an der Universität Witten-Herdecke Philosophie und Rhetorik lehrt. Werner hat Theologie, Philosophie und Germanistik studiert, hat anschließend als Journalist gearbeitet und ist heute neben seiner Lehrtätigkeit Buchautor und Unternehmensberater. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Wir trinken eine Teemischung aus Marokko. Der Verkäufer hat gesagt, dass der Tee beruhigend wirkt. Niemand wird wütend, das wäre doch schön, oder?
Jürgen Werner: Die Wut ist elementar und total wichtig. Inwiefern? Abgesehen von dem Phänomen, dass es im Zweifel sehr unangenehm für einen selber sein kann, wütend zu sein oder für einen selber sein kann, Adressat von irgendwelchen Wütenden zu sein, spricht sich in der Wut etwas aus. Das ist erst einmal Leben. Ich glaube, es ist sogar mehr als Leben. Es ist das, was das Leben in nicht ganz unwesentlichen Phasen auszeichnet, nämlich der Ernst. Der Wütende ist ernst, der versteht keinen Spaß, der kann sich, weil das so elementar ist, auch nicht von dieser Wut und in dem Fall auch nicht von sich selber distanzieren. Er hat kein Verhältnis zur Wut. All dies ist unheimlich wichtig. Ich möchte auf Menschen nicht verzichten müssen, die wütend werden können.
Du sprichst bei der Wut davon, dass es einen Adressaten für die Wut gibt, dass die Wut sich an jemanden richtet. Ist das immer so? Und gibt es einen Unterschied zwischen Wut und Zorn?
Werner: Das sind zwei unglaublich komplexe Fragen. Lasst uns zunächst mal über den Adressaten reden. Ich bin nicht so sicher, dass die Wut immer einen Adressaten hat. Der Zorn ja, die Wut nicht, zumindest nicht immer direkt.
Wir kennen das Stellvertreterphänomen, dass du irgendeinen Sündenbock suchst dafür, dass irgendetwas nicht gelungen war. Ich bin ein Schreiberling und es kann durchaus sein, dass ich sehr unzufrieden bin und diese Unzufriedenheit über das, was ich da zu Werke gebracht habe, überhaupt nicht gut finde: dass ich diese Investition in Lebenszeit irgendwie sehr bedauere, dass irgendwas nicht funktioniert, dass vielleicht meine Tastatur ausgefallen ist und ein Buchstabe nicht mehr funktioniert. Dann suche ich mir irgendeinen Gegenstand und haue darauf oder schreie herum. Ich möchte nicht, dass andere das hören, sondern es ist einfach eine Entlastung von einem Innendruck. Dieser Innendruck entsteht in dem Augenblick. Das ist ein sehr zentrales Element von Wut: meine eigene Ohnmacht. Ich kann an der Situation nichts ändern.
Beim Zorn gibt es immer ein Gegenüber. Ich bin immer über etwas oder über jemanden zornig und glaube auch, dass der Zorn sich bestimmt durch eine Form von Gerichtetheit. Ich gehe jetzt mal etwa 200 Jahre zurück und lasse Charles Darwin sprechen, der sich mit der Phänomenologie und auch der Physiognomie in vielerlei Hinsicht beschäftigt hat. Er meinte, eine äußerliche Unterscheidung zwischen Wut und Zorn feststellen zu können. Die äußert sich darin, dass der Zorn sich er hier in der Stirnpartie, also oberhalb der Augen, ausdrückt: Ich kriege die berühmten Zornesfalten. Die Wut sich eher in der Mundpartie artikuliert. Ich fletsche meine Zähne.
Die Wut ist viel impulsiver. Der Zorn hat viele Elemente von Vernunft, und wäre sogar bereit, sich an die Regeln von Vernunft zu halten. Die Sprache gibt einem einen unglaublichen Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten, zornig sein zu können. Dieses Reservoir kann ich mir zu eigen machen, wenn ich meinen Zorn ausdrücken möchte. Wut macht oft nicht nur sprachlos, sie ist auch sprachlos.
Wenn der Zorn zielgerichtet ist, dann habe ich mich entschieden, mit meiner Wut etwas zu machen. Oder ich richte die Wut konkret gegen etwas. Demnach wäre der erste Moment der Wut ein Indikator: Achtung, da stimmt was nicht. Die Wut ist dann ein Zeichen dafür, dass ich erkenne, was mich veranlasst, mich so zu fühlen. Besteht da eine Verbindung zwischen Wut und Zorn?
Werner: Wut und Zorn wollen Veränderung. Ich denke nicht, dass mit dieser Veränderung gleiche Arten von Einsichten verbunden sind. Die Wut erlebt Veränderung als etwas, demgegenüber ich mich ohnmächtig fühle. Diese Ohnmacht ist für die Wut entscheidend. Ich kann es nicht ändern, oder ich kann mich, wenn ich es nicht ändern will, der Veränderungen nicht erwehren. Wohingegen der Zorn absolut überzeugt ist davon, dass er was ändern kann und dass diese Energie, mit der er auftritt, dazu beiträgt, dass sich etwas ändert.
Wenn du mit Menschen sprichst, die du selber als wütend einschätzen würdest, dann findest du das immer wieder, dass diese Menschen sagen, es passiert so viel. Wir leben in einer Zeit, die so fragil ist, wir wissen nicht so richtig, wo wir hingehören, wo es hingehen wird. Die einen sagen dieses, die anderen sagen jenes, die da oben machen aber jenes oder machen gar nichts. Schon dieser Ausdruck "die da oben", "die Parteien". Ich erinnere nur, dass wir in einer Demokratie leben. Da ist der Souverän der Bürger. Das sind alles Ausdrucksformen einer Ohnmacht, einer Hilflosigkeit. Aber es gibt einen Punkt, an dem es umschlagen kann. Das muss aber nicht passieren, Wut kann auch Wut bleiben. Dann wird sie kalte Wut. Dann schlägt es möglicherweise um in etwas anderes, nämlich nicht in Zorn, sondern in Hass. Und das ist viel schlimmer.
Sind Wut und Zorn so scharf voneinander zu trennen? Oder gibt es eine Verbindung von einer diffusen Wut - das ließe sich übertragen auf so etwas wie den Wutbürger - einen Schritt weiter, möglicherweise in den Hass? Und ist das so scharf zu trennen vom Zorn?
Werner: Man könnte sagen, Wut ist der Zorn der Hilflosen und diese düstere Hilflosigkeit drückt sich darin aus, dass ich nicht spreche, sondern schreie. Schreien heißt, dass die Individualität meiner Stimme verloren geht. All das, was eine Stimme auszeichnet. Dass sie sich abzeichnet, dass sie artikuliert, dass die Chance besteht, dass mein Gegenüber mich versteht. Das hat die Wut nicht. Ich will mich nicht so ausdrücken, dass er mich versteht. Ich schreie, es ist zu laut, es ist zu unartikuliert.
Der Zorn artikuliert sich, der ist sogar in der Lage, ruhig zu werden. Der bricht gar nicht aus, sondern er ist scharf und in seiner Schärfe findet er Argumente, die andere so angehen, dass sie zwingen. Also das, was mal in der Kommunikationstheorie zwangloser Zwang genannt wurde. Das passiert da. Ich überwinde eine Position. Ob jemand das annimmt, ist eine ganz andere Geschichte. Aber der Zorn möchte gerne anerkannt werden. Ich möchte wahrgenommen und anerkannt werden in meinem Ansinnen. Oft ist es ein größeres, kein persönliches Ansinnen.
Bei der Wut geht es nur um mich. Da bin ich gefangen in mir selbst. Der Zorn, der will mehr als mich. Der Zorn setzt voraus, dass wir Regeln kennen, die erlauben, dass wir uns auf eine zivilisierte Art und Weise, also nicht gewalttätig, auseinandersetzen können. Das interessiert die Wut gar nicht. Der Zorn ist vernünftiger. Ich würde den Hass sehr viel näher auch an die Wut rücken als an den Zorn.
Zwischen diesen beiden gibt es etwas Entscheidendes, das beschrieben werden muss. Zorn und Wut vergehen sehr schnell. Der Zorn verraucht, Hass bleibt. Der hat sich festgefressen im einem selbst und ist präsent. Der Hass ist sehr viel interessierter daran, dass er bleibt, dass ist das eine. Das Zweite ist: Hass richtet sich immer auf die Vernichtung des anderen. Ich glaube nicht, dass die Wut das tut. Die Wut ist eher ein Schutz davor, dass ich mich selber nicht vernichte.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.