Warum schämen wir uns? Maria-Sibylla Lotter im Gespräch
Wie entsteht Scham? Die Philosophin Maria-Sibylla Lotter erklärt im Gespräch mit dem Philosophie-Podcast Tee mit Warum, wieso wir uns schämen und welche positiven wie negativen Aspekte Scham hat.
Das Gefühl dürfte jedem Menschen bekannt sein: Man empfindet Scham für etwas, was man getan oder gesagt hat. Warum schämen wir uns? Maria-Sibylla Lotter ist Philosophie-Professorin an der Ruhr Universität Bochum und hat das Buch "Scham, Schuld, Verantwortung - Über die kulturellen Grundlagen der Moral" geschrieben. Denise M'Baye und Sebastian Friedrich sprechen mit ihr über die Entstehung und die Funktion von Scham in unserer Gesellschaft. Einen Auszug lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Frau Lotter, wie entsteht Scham überhaupt?
Maria-Sibylla Lotter: Scham entsteht vermutlich allmählich beim Kind, wenn es die Erwartungen seiner sozialen Umgebung verinnerlicht. Wenn Kinder lernen, dass die Erwachsenen auf manche Dinge positiv, auf andere Dinge negativ reagieren. Das müssen gar nicht unbedingt Belehrungen der Eltern sein, sondern man merkt einfach an der Körpersprache: Das mögen die anderen nicht. Das Gefühlsleben stellt sich auf Normen ein, die von den Erwachsenen sowohl bewusst als auch völlig unbewusst transportiert werden.
Über die Erziehung hinaus gibt es auch Scham. Reaktionen, die sich in der Körperscham zeigen. Die quasi universell sind, die man in allen Kulturen beobachten kann, dass überall Maßnahmen ergriffen werden, die den Körper vor den Blicken anderer schützen. Entweder, indem man ihn durch Kleidung verhüllt oder indem es gewisse soziale Norm gibt, andere nicht aufdringlich anzuschauen. Es entwickeln sich überall gewisse Scham- oder Taktstrukturen, die dazu führen, dass die Einzelnen im sozialen Raum nicht allzu brutal dem sozialen Druck anderer ausgesetzt sind.
Ist Abweichung von der Norm Grundbedingung für Scham?
Lotter: Scham würde nicht entstehen, wenn es nur einen Menschen gäbe, der allein in der Welt ist. Es geht immer um die Art und Weise, wie man von anderen wahrgenommen werden könnte. Dabei werden natürlich Normen transportiert. Es geht nicht nur um das bloße Wahrgenommen werden - auch das kann schon Verlegenheit auslösen - sondern es geht darum, dass man, wenn man den Blick anderer antizipiert, sich unter bestimmten Gesichtspunkten wahrgenommen fühlt.
Scham funktioniert also nur im Kontext mit anderen Menschen und darüber, dass ich davon ausgehe, dass ich be- oder verurteilt werde. Sehen Sie das auch so?
Lotter: Ja, Sie haben vollkommen recht. Ich stecke nicht in dem anderen drin. Ich mutmaße in dem Moment selbst, wie der andere mich wahrnimmt. In der Scham wird also so etwas wie ein schlechtes Gewissen real. Der springende Punkt der Scham ist: Hier kann ich mich diesem schlechten Gewissen überhaupt nicht entziehen. Wohingegen wenn ich in einer Situation des Alleinseins bin, das schlechte Gewissen nicht unbedingt selbständig aktiv wäre. Dass ich merke, dass ich von anderen beobachtet werde oder dass mir einfällt, dass andere etwas bemerken könnten, löst dieses verinnerlichte normative Bewusstsein überhaupt erst aus. In der Scham wird unser soziales Gewissen am meisten aktiv.
Ist Scham ein für uns Menschen eher positives oder eher negatives Gefühl?
Lotter: Ich gehöre zu den Leuten, die sowohl vor Schwarz- als auch vor Weißmalerei warnen. Ich finde, die meisten Phänomene wie Scham versteht man nur, wenn man in dieser Hinsicht auf generelle Beurteilung ganz verzichtet und sie in ihrer Ambivalenz wahrnimmt. Scham schützt uns einerseits davor, uns im sozialen Raum, in dem wir gewisse Normen, gewisse konventionelle Grenzen überschreiten, problematischen Erfahrungen und Aggressionen auszusetzen. Aber sie zieht natürlich auch unserer Selbständigkeit Grenzen. Daher müssen wir manchmal diese Grenzen überschreiten und Schamerlebnisse auch in Kauf nehmen, wenn die Scham uns in einer Situation festhält, die für uns nicht gut ist.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.