Leben wir in einer gespaltenen Gesellschaft? Jürgen Kaube im Gespräch
Von einer gespaltenen Konfliktlandschaft wie in den USA sind wir in Deutschland weit entfernt, meint FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube im Gespräch mit dem Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Streit gehört zu einer Demokratie dazu. Sie lebt von der Auseinandersetzung, vom Ringen um das bessere Argument. Aber bringt mehr Streit nicht auch eine Gesellschaft auseinander? Jürgen Kaube hat darüber das Buch "Die gespaltene Gesellschaft" geschrieben. Denise M'Baye und Sebastian Friedrich sprechen mit ihm über die Notwendigkeit zu streiten, über wirklich gespaltene Gesellschaften und darüber, was wir im Streit alles aushalten können. Einen Auszug lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Warum wird so viel über die Spaltung der Gesellschaft geredet? Haben Sie eine Antwort darauf?
Jürgen Kaube: Mehrere sogar. In einer Gesellschaft, in der es zahllose Konflikte gibt, ist es eine rhetorisch naheliegende Taktik, den eigenen Konflikt zum wichtigsten von allen Konflikten zu erklären. Der ist dann geeignet, die Bevölkerung in zwei Gruppen aufzuteilen. Fast alle Konflikte laufen auf so Zweierkonstellationen hinaus. Die einen sind für die Belieferung der Ukraine mit Waffen, die anderen sind dagegen. Die einen sind für Migration, die anderen sind dagegen. Die einen sind im Osten und sind deswegen gegen die im Westen. Es wird leicht behauptet, der Konflikt spaltet die Gesellschaft - und nicht einfach diese 300 Leute und jene 500 Leute.
Es wird häufig auch behauptet, dass diese Konflikte geeignet sind, diese Gruppen wirklich voneinander zu trennen. Man sagt nicht: In diesem Konflikt bin ich gegen dich und in jenem Konflikt bist du auf meiner Seite gegen andere. Normalerweise bilden wir die unterschiedlichsten Koalitionen, wo man mal Feministin ist und mal ist man im Mittelstand - also eine mittelständische Feministin, die folgende Position zum Krieg in der Ukraine hat. Das ist im Grunde das Bild. Wir haben einen Konfliktreichtum, der sich eigentlich nicht in zwei klare Lager, die einander gegenüberstehen, sortieren lässt. Jedenfalls hierzulande nicht: Wir können über die USA sprechen oder Nordirland oder Israel - da ist es vielleicht anders. Dass wir gerne so tun, als seien wir in einer ultimativen entscheidenden Schlacht um die Wahrheit, das bringt in die Talkshows mehr Farbe hinein, aber entspricht nicht der Wirklichkeit.
Weil sie auch schon die USA angedeutet haben: Ist es nicht möglich, dass es auch hierzulande eine Dynamik gibt, die zunehmend in so eine Richtung geht? Dass es eine Polarisierung gibt, auf der einen Seite die AfD und auf der anderen Seite die Grünen? Gerade wenn wir die letzten Monate betrachten, scheint es mir schon solche Gruppierungen zu geben. Stichwort: Heizungsgesetz, Gendern...
Kaube: Ausschließen kann man das nicht. Es ist eine Möglichkeit einer modernen Gesellschaft, sich in eine extreme Polarisierung zu entwickeln. Aus den Vereinigten Staaten hört man diese Analysen, dass da auch republikanisch und demokratisch gewohnt, geheiratet, gegrillt und Fernsehen geschaut wird. Also das sind wirklich Gruppen. In den USA ist es ein Zweiparteiensystem. Bei uns liegt das ein bisschen anders. Was hierzulande dagegen spricht, ist der hohe Anteil an Wechselwählern, den wir haben. Die Zahl der Leute, die bei einer Wahl etwas anderes wählen als bei der vorherigen Wahl geht so auf die 50 Prozent zu. Wir haben Wählerströme zwischen allen Parteien - von der AfD zu den Grünen, von den Grünen zur FDP, von der CDU zu den Linken, von den Linken zur CDU. Es gibt die überraschendsten Wählerwanderungen in unterschiedlichsten Mengen, aber es ist ein großes Durcheinander. Das spricht ein bisschen dagegen. Ich denke, wir haben noch eine relativ stabile Mittelschicht. Eine Zweiklassengesellschaft nach den marxschen Vorhersagen zeichnet sich nicht ab: Also am Ende gäbe es nur noch die Kapitalisten und die Proletarier - und die führen einen großen Endkampf gegeneinander. Das ist bei uns überhaupt nicht der Fall.
Sie hatten mich zur AfD gefragt. Natürlich hat das ein Potenzial der Polarisierung. Insbesondere wenn man dem Irrtum unterliegt, die AfD sei eine Partei des Ostens. Nach wie vor kommen die meisten Bundestagsabgeordneten der AfD aus dem Westen. Die AfD hat sicherlich selbst ein Interesse, die Situation so darzustellen. Sie hatten es angesprochen mit diesen Punkten wie Gendern als Feindbild Nummer eins. Wir haben gerade in Hessen einen CDU-Minister, der irgendwie die Vorstellung hat, man könne das an den Schulen und den Universitäten untersagen. Ich bin mal gespannt, wie viele Polizisten er hat, um das durchzusetzen. Aber das zeigt: Da bekommt man dieses AfD gegen den Rest gar nicht hin. Weil es im Rest auch Leute gibt, die Positionen vertreten, die die AfD gerne privilegiert für sich hätte. Das ist relativ normal für unsere Parteiendemokratie. Ich will jetzt nicht alles verharmlosen. Wir leben nicht im spannungsfreien Paradies - natürlich nicht. Es gibt heftigen Streit, es gibt auch Gewalttätigkeit; gerade im Kontext Migranten, gerade im Kontext Antisemitismus, gerade im Kontext Ausländerfeindlichkeit. Aber das führt nicht zu einer Spaltung der Gesellschaft, sondern es sind harte Konflikte im Einzelnen. Es ist nicht so, dass die Bevölkerung entlang dieser Konflikte auseinanderklafft - dafür sehe ich keinen Hinweis.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.