"Du bist gut so": Glaube versus Optimierungskultur
Liebe ist für Petra Bahr die zentrale Botschaft des Christentums. Weshalb sie die Möglichkeit der Vergebung und bedingungslosen Akzeptanz so schätzt, erklärt die Religionsphilosophin im Podcast Tee mit Warum.
Im Gegensatz zu individuellen Erfahrungen wie Meditation oder Kunst biete der Glaube eine weltumspannende Gemeinschaft, behauptet Petra Bahr. Die Theologin und Philosophin ist seit 2017 Regionalbischöfin für den Sprengel Hannover in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Frau Bahr, wie kann man Mensch bleiben angesichts der vielen Erfahrungen der Entmenschlichung und der Entfremdung in unserer Welt? Welche Rolle kann da Gott spielen?
Petra Bahr: Das ist eine Frage, die die ganze Welt auf unterschiedliche Weise beschäftigt. Für mich von innen als religiöser Mensch, als Christin, ist es so, dass die Tiefe und der Grund meines Lebens und auch die Horizontbestimmung durch das bestimmt ist, was wir Gott nennen: mit den Überlebensgeschichten, die vor dem Hintergrund der Bibel theologisch weitererzählt werden - nicht im Sinne eines alten Mannes mit Bart, der dafür sorgt, dass die Dinge nicht ganz aus den Fugen geraten. Das ist eine Vorstellung, die viele Menschen noch haben, ganz besonders die, die religiöse Menschen für dumme, etwas hinterwäldlerische Wesen halten.
Braucht Gott eine Gestalt? Das Göttliche, wenn man es philosophisch betrachtet als das Unendliche oder das Undarstellbare, braucht Darstellungsformen. Deswegen gibt es das in vielen Religionen. Im Christentum ist es eine besondere Form der Gestalt, weil Gott sich in einem Menschen gezeigt hat, stellvertretend und in der Geschichte dieses Menschen, übrigens auch in den Geschichten, die dieser Mensch - Jesus von Nazareth - erzählt. Deswegen ist es ein nahbarer Gott, aber auch eine Gottesvorstellung, die tief verbunden ist mit dem, was wir Passionen nennen, also mit dem Leiden, dem Fragilen, dem Endlichen der Menschheitserfahrung. Es ist nicht das Transzendente, Großartige, Goldglänzende, was weit über uns hinausragt.
Die Vorstellung des alten Mannes, der auf der Wolke sitzt, ist problematisch. Ist die Personalisierung an sich ein Problem?
Bahr: Es ist eine gute alte Religionskritik, dass man den gottgläubigen Menschen vorwirft, sie stellten sich die Idealform des Menschen vor. Und sie projizierten alles da hinein, das Gerechte, das Schöne, das Gute, das Liebenswerte, um dann gleichzeitig aber auch den großen Rest der Menschheit, der das nicht glaubt, auszuschließen. Doch wenn man sich zum Beispiel die großen biblischen Texte anguckt, stellt man fest, dass es ganz viele Vorstellungen davon gibt, wie das Göttliche ist: Es hat eine weibliche Seite, eine kindliche Seite, eine zornige Seite - es ist affektiv und nicht nur rational.
Solange deutlich wird, dass das Bilder sind, und ein Bild immer durch das andere korrigiert und aufgehoben wird, finde ich es nachgerade sinnvoll, sich auch ein Gegenüber vorzustellen. Schwieriger wird es, wenn dieses Gottesbild als alter Vater mit weißen Haaren vorgestellt wird und all die anderen biblischen Beschreibungen des Göttlichen unter den Tisch fallen. Ich glaube, zu Letzterem hat die Kunst des Abendlandes viel beigetragen.
Was halten Sie davon, den Glauben unabhängig von der Institution der Kirche zu leben?
In meiner Vorstellung als protestantische Theologin, als Kulturprotestantin, gibt es zwei Sachen dazu. Zum einen gibt es immer eine individuelle Religiosität und eine eigene Verbindung zu Gott, die nie aufgeht in dem, was die Kirche als Institution sagt oder ist. Auf der anderen Seite ist für mich diese religiöse Erfahrung nicht nur eine einsame Erfahrung, sondern eine, die geteilt ist mit einer Gemeinschaft von Menschen, die ich gar nicht kenne, die am anderen Ende der Welt leben und mit denen mich doch dieser Glaube verbindet.
Das ist ein Unterschied zu einer ganz individuellen Erfahrung, die man etwa in der Meditation oder auch in Kunsterfahrungen wunderbar alleine machen kann. Für mich ist zum Beispiel Musik oder auch die Erfahrung von Kunst eine, die immer wieder spirituelle Horizonte aufreißt. Aber gemeinsam ein "Vaterunser" zu beten und sich vorzustellen, dass vor vielen hundert Jahren und vielleicht auch noch in einigen Jahrzehnten dieses "Vaterunser" in vielen Sprachen dieser Welt gebetet wird, trotz all der Zweifel an diesen Aussagen, das ist etwas, was weit über meine eigene Spiritualität hinausreicht. Deswegen ist die Institution, die Organisationsgestalt der Kirche, für mich so wichtig, als Selbstkorrektur.
Das Leben ist ein ständiges Üben, Werte wie das christliche Liebesgebot anzustreben. Doch wir scheitern täglich. Wie können wir damit umgehen?
Bahr: Deswegen ist diese Dimension der Vergebung so wichtig: Ich scheitere die ganze Zeit. Aber ich muss an meinem eigenen Scheitern nicht zerbrechen, sondern ich kann davon befreit weitergehen. Das ist diese eine große Dimension, die übrigens in vielen antiken Philosophien überhaupt nicht vorgesehen ist. Dort muss man sich anstrengen, und wenn man die Tugenden nicht erreicht, ist man philosophisch minderwertig. Dahingegen wird im Christentum vorausgesetzt, dass Menschen an ihren eigenen guten moralischen Ansprüchen scheitern und dass sie daran nicht zerbrechen, sondern sich immer wieder frei machen können.
Es gibt Momente, in denen wir Menschen auf eine Art begegnen, wie wir es eigentlich nicht möchten. Aber beim nächsten Mal darf die Begegnung ganz anders sein. Das ist eine ganz praktische Herangehensweise, diesen Vorsatz zu erfüllen, dass wir liebende Wesen sind und einander auf diese Art und Weise begegnen, oder?
Bahr: Die in Hannover geborene jüdische Philosophin Hannah Arendt hat sich sehr mit christlicher Theologie beschäftigt, ist aber tief verwurzelt in einer säkularen Variante des Judentums. Sie hat daran erinnert, dass dies die zwei großen Kräfte der Menschheit sind: zu verzeihen und zu versprechen. Dieses Wagnis wird in der Theologie in vielen biblischen Facetten wiederholt und gehört zu einer zentralen "Vaterunser-Bitte".
Religionskritik ist das eine. Ich würde es mal in die andere Richtung formulieren und die heutige Optimierungskultur, in der man immer schöner, besser, cooler, möglicherweise sogar minimalistischer, spiritueller oder wie auch immer sein muss, in den Blick nehmen. Dieser gigantische Leistungsdruck, der gerade auf jungen Leuten ruht, ist etwas, was ich wirklich mit großer Sorge sehe. Denn der Selbstanspruch, so wahrgenommen zu werden, dass man anerkannt wird, ist mittlerweile in etwas fast Diabolisches umgeschlagen.
Dagegen steht diese Art der Entspannung, der heilsamen Unterbrechung dieser Idee von uns selbst, als müssten wir grandios sein, um uns selbst lieben zu können und um liebenswert sein zu können. Das ist eine der ganz zentralen biblischen Botschaften. Die Idee, dass Gott als gesetzter Grund meines Lebens diese Zusage schon gemacht hat, ist eine der ganz zentralen biblischen Botschaften: Du bist so gut, wie du bist. Du bist ein Geschöpf, du bist eine Beziehung zu mir. Du bist gut wie du bist, nicht im Sinne der Entschuldigung von allem, was man tut, sondern im Sinne dieser großen Kraft, die daraus entspringt, dass meine Leistungen durchaus an Grenzen stoßen können - und dass das mein Menschsein aber nicht tangiert.
Die Fragen stellten Denise M'Baye und Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.