Doris Lessing bei einer Lesung im Hamburger Literaturhaus © dpa

Die Aufteilung der Anna Wulf

Stand: 30.05.2016 17:50 Uhr

In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Doris Lessings "Das Goldene Notizbuch".

Von Hanjo Kesting

Doris Lessing bei einer Lesung im Hamburger Literaturhaus © dpa
Doris Lessing bei einer Lesung im Hamburger Literaturhaus.

Doris Lessing, die englische Schriftstellerin, geboren 1919 in Persien als Tochter eines britischen Offiziers, aufgewachsen in Rhodesien, nach dreißig Lebensjahren und zwei gescheiterten Ehen mit einem Sohn nach England übergesiedelt, wo ein Jahr später ihr erster Roman "The Grass Is Singing" ("Afrikanische Tragödie") erschien und sogleich ein Bestseller wurde, Verfasserin von mehr als zwanzig Büchern mit Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und Gedichten, seit Mitte der siebziger Jahre nobelpreisverdächtig, bis sie diesen Preis 2007 endlich erhielt. Doris Lessing ist den deutschen Lesern erst spät, mit ihrem Roman "Das goldene Notizbuch", ins Bewusstsein gedrungen, ein Vierteljahrhundert, nachdem sie zu publizieren begonnen hatte. So war sie bei uns von Anfang an eine verspätete Autorin.

Die Aufteilung der Anna Wulf

"Das goldene Notizbuch" ist bis heute ihr bekanntestes Buch. Es ist der ehrgeizige Versuch, einen Roman über die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, über seine Probleme, Widersprüche, ungelösten Konflikte zu schreiben. Geschildert werden sie aus der Perspektive einer Frau, die Anna Wulf heißt, Schriftstellerin ist und zugleich die Protagonistin der Rahmenhandlung des Buches. Anna sitzt auf einem hochgeschraubten Klavierhocker vor einem Zeichentisch und schreibt; vor ihr liegen vier Notizbücher aufgeschlagen, in die sie abwechselnd Eintragungen macht: ein schwarzes Notizbuch, das von Anna Wulf, der Schriftstellerin, handelt; ein rotes Notizbuch, das Politik betrifft; ein gelbes Notizbuch, in dem Anna aus dem, was sie erlebt hat, Geschichten macht; ein blaues Notizbuch, das den Versuch eines Tagebuchs darstellt.

Die Notizen erzählen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Graden der Fiktion. Im schwarzen wie im blauen Notizbuch tritt Anna unverhüllt als Ich-Erzählerin auf. Einmal steht im Mittelpunkt die afrikanische Vergangenheit, die zugleich Aktivität in der kommunistischen Partei bedeutet; auf der anderen Seite steht die subjektive Erfahrung, zu der fehlgerichtete Gefühle und sexuelle Unerfülltheit gehören. Die für Anna entscheidende Begegnung mit dem amerikanischen Schriftsteller und früheren Kommunisten Saul Green ist dem blauen Notizbuch anvertraut.

Buchcover: Doris Lessing "Das goldene Notizbuch" © S. Fischer
AUDIO: Doris Lessing "Das Goldene Notizbuch" (5 Min)

Anna Wulf hat sich also in mehrere Annas aufgeteilt und findet nun eines Tages in einem Papierladen in London, wo sie lebt, jenes Goldene Notizbuch, dem der Roman seinen Titel verdankt. In dieses Notizbuch mündet am Ende das blaue Notizbuch über ihre Affäre mit Saul. Dies ist die Quintessenz des Buches, sein konzentrierter, man könnte auch sagen: sein explodierender Teil. Auf diese fragmentarischen Seiten des Goldenen Notizbuches ist der ganze Roman ausgerichtet. Die politischen Erfahrungen werden hier mit persönlichen und privaten verklammert. Doris Lessing selber drückt es so aus, dass Anna und Saul "ineinander zusammenbrechen". Darin kommen gleichzeitig äußerste Verzweiflung und eine Erfüllung, die nicht überboten werden kann, zum Ausdruck.

Noch lange nicht ausgelesen

Der Roman traf, als er in Deutschland mit sechzehn Jahren Verspätung erschien, auf eine empfängliche, vorwiegend weibliche Leserschaft, die in dem Buch eine Art Bibel des Feminismus sah. Tatsächlich war es ein Schlüsselbuch der Literatur über die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Doris Lessing selbst hat gesagt, gerade dieses Buch bleibe für sie auch lange nach der Niederschrift eine nützliche und lehrreiche Erfahrung. Aus den Reaktionen habe sie gelernt, dass ein Roman im Kopf der Leser ein Eigenleben führt, dass er anders wahrgenommen wird als er vom Autor intendiert ist, ja dass es für einen Autor kindisch ist zu wollen, dass die Leser sehen, was er sieht.

Wenn er dies will, hat er etwas Wesentliches nicht verstanden. Doris Lessing drückt es mit den Worten aus: "Dass nämlich ein Buch nur dann lebendig und kraftvoll und befruchtend ist, fähig, Gedanken und Diskussion zu fördern, wenn sein Entwurf, seine Form und seine Intention nicht verstanden werden, denn der Moment, in dem Form und Entwurf und Intention verstanden sind, ist auch der Moment, in dem nichts weiter herauszuholen ist." Für Doris Lessings "Goldene Notizbuch" ist der Zeitpunkt, an dem es ausgelesen ist, noch lange nicht gekommen.

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur Wissen | 31.05.2016 | 09:20 Uhr

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