Daniel Schreiber und Ulla Lenze schreiben und sprechen über das Trauern
Kaum etwas ist so prägend im Leben eines Menschen wie die Phase des Trauerns. Daniel Schreiber und Ulla Lenze sprechen darüber, was mit uns geschieht, wenn wir einen geliebten Menschen verloren haben.
Trauern lernen - geht das?
Ulla Lenze: Spontan würde ich sagen: nein. Aber auch wiederum: ja. Das Trauern ist etwas sehr Individuelles. Es hängt ab von der Art des Todes, den eigenen Lebensumständen, davon, wie gefestigt man ist, und welche Beziehung man zum Verstorbenen hatte. So kann Trauer in manchen Fällen leichter und friedlicher vonstattengehen und in anderen Fällen auch traumatisch sein und sich lange hinziehen.
Daniel Schreiber: Für mich klingt das nach einer Frage, deren Ziel die Trauervermeidung ist. Sie impliziert, dass es so etwas wie einen Fünf-Punkte-Plan gibt für das Trauern. Dann lernen wir es und können und müssen uns diesem schwierigen Zustand nicht mehr aussetzen. Trauern heißt aber, sich genau diesem Zustand auszusetzen. Trauern heißt, sich genau in diese Phase einer fehlenden psychischen Intaktheit zu begeben, in der man nicht mehr - oder nur noch punktuell - man selbst ist, in der die Welt, die man kannte, und das Leben, das man kannte, nicht mehr existieren oder nur noch entfernt - wie hinter einem Vorhang. Wir müssen durch diese Phase durch, um zu trauern. Deswegen gibt es keinen Fünf-Punkte-Plan. Alle Ratschläge, die man lesen kann, sind relativ nutzlos. Aber was wir lernen können, ist tatsächlich, darüber zu reden. Ich glaube, unsere Bücher sind dazu da, dieses Gespräch anzustoßen.
Lenze: "Lernen" impliziert etwas Aktives. Aber Trauern ist etwas ganz Passives. Es bedeutet: zulassen können, was ist. Diese verlorenen Gewissheiten, die verlorene Sicherheit: das aushalten lernen. Ja, jetzt habe ich auch das Wort "lernen" benutzt, aber es ist eher etwas, was man geschehen lassen können muss.
Vielleicht noch nicht einmal "muss". Mit diesem Verb wird auch schon ein gewisser Druck formuliert. Vielleicht passt es auch nicht zur Trauer: Sie kommt einfach, auch wenn wir versuchen, sie zu verdrängen. Das erzählen Sie auch in Ihren Büchern: Verdrängung ist offenbar keine Option.
Schreiber: Verdrängen ist unsere allererste Reaktion auf schwerwiegende Verluste. Es ist eine wichtige psychische Reaktion, denn wenn wir wirklich die Tragweite der Verluste, die wir erfahren, begreifen würden, dann wären wir nicht in der Lage, morgens aufzustehen. Das betrifft nicht nur private, sondern auch kollektive gesellschaftliche Verluste. Wir erleben das ganz stark im Moment, wenn man an den Klimawandel denkt oder an die ganz langsame Aushöhlung demokratischer Strukturen und Werte. Wir verdrängen das ganz intuitiv. Wenn wir wirklich verstünden, was diese Entwicklungen bedeuten und wohin sie führen, könnten wir unseren Alltag nicht mehr leben. Aber irgendwann merkt man: Das Verdrängte geht nicht weg.
Das vollständige Gespräch hören Sie im Sonntagsstudio. Es führte Joachim Dicks.