Der Autor und Moderator Michel Friedman (rechts) und Podcast-Host Sebastian Friedrich (links) © NDR
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AUDIO: Woher kommt der Hass? Mit Michel Friedman, de Beauvoir und Sartre (51 Min)

Woher kommt der Hass auf Juden? Michel Friedman im Gespräch

Stand: 08.02.2024 06:00 Uhr

Michel Friedman hat gerade das Buch "Judenhass" veröffentlicht. Woher kommt der Hass - gegen Juden und gegen das Fremde im Allgemeinen? Ist unsere Demokratie in Gefahr? Im Philosophie-Podcast Tee mit Warum versucht Friedman, Antworten zu finden.

Michel Friedman ist Jurist, Moderator und hat ab 2006 - einem Jugendtraum folgend - Philosophie studiert und mit Promotion abgeschlossen. Der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden ist angesichts der antisemitischen Ausschreitungen seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 besorgt um jüdisches Leben in Deutschland und um die Zukunft unserer Demokratie. Am 1. Februar erschien sein Buch "Judenhass". Friedman versucht, die Entstehung und die Mechanismen des Judenhasses zu erklären. Er fordert eine stärkere Politisierung der Menschen, um den Fortbestand der Demokratie zu gewährleisten. Einen Auszug lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.

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Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum: Woher kommt der Hass? Mit Michel Friedman

Woher kommt der Hass auf Juden? Und welche Gefahr entsteht daraus für die Demokratie? Darüber spricht Sebastian mit Michel Friedman. extern

Herr Friedman, in Ihrem Buch "Judenhass" beschäftigen Sie sich auch mit Jean-Paul Sartres Text "Überlegungen zur Judenfrage". Darin stellt Sartre die These auf, dass der Antisemit seine eigenen Misserfolge und Unzulänglichkeiten auf die Juden projiziert und die Sündenböcke benutzt, um die eigene Identität und das eigene Selbstbild zu stärken. Würden Sie sagen, dass es eine historische Funktion von Sündenböcken gibt?

Michel Friedman: Wir wissen aus der Sozialforschung, dass die Gruppenbildung von Menschen zum Überleben unverzichtbar ist. Es gibt Möglichkeiten, eine Gruppenidentität herzustellen, indem man eine positive Identität herstellt. Oder es gibt Möglichkeiten, Gruppenidentitäten herzustellen, indem man die anderen Gruppen zu Feindbildern verändert. Wir konstruieren die Welt, in der wir leben. Es gibt nicht meine Welt, die wirklich meine ist, sondern es gibt die Konstruktion meiner Welt mit meiner Geburt. Die ersten Konstruktionsziegel und dann die Statik kommen von den ersten erwachsenen Menschen, die viel reden, die Verhaltensweisen vorleben. Bis zum vierten Lebensjahr sind mir all diese Dinge nicht in Erinnerung. Das ist eine der Tragödien der Freud'schen Psychoanalyse: Dass sie das nie geschafft hat, an diese vier Jahre heranzugehen. Wir nennen das kindliche Amnesie. Aber in diesen Konstruktionen werden viele Dinge, auch über andere Menschen, andere Gruppen gesagt. Hier werden sehr viele Vorurteile angelegt. Die Konstruktion dieser Welt hört nie auf bis zum Tod.

Wenn man so will, ist die Frage: Sind wir in der Lage, Vorurteile wieder abzubauen? Natürlich sind wir in der Lage, das zu tun. Dafür gibt es Instrumente. Eines dieser Instrumente haben wir übrigens schon angesprochen. Wenn ein fünfjähriges Kind sagt, die sind so, dann die Frage zu stellen, warum? Ein Kind wird in der Regel sagen, darum und dann wird es sagen, weil Papa das gesagt hat, weil Mama das gesagt hat. Wenn man da schon anfängt, diese Zweifel in dieses Kind einzubauen, sich nämlich zu überprüfen, gar nicht, um eine neue Konstruktion von außen herzustellen, sondern um Instrumente anzubieten. Wie überprüfst du dich - also diese Wand wieder etwas zu lockern und ein paar Steine fallen heraus und wenn wir das als ein Kontinuum machen würden in unserer Bildung. Ich glaube, dass das ganz wichtig ist, dass man das in der Bildungsinstitution immer wieder täte. Dann wären wir in der Lage, durch den Zweifel sehr viele Dinge, die später, wenn man das nicht tut, in einer Verhärtung, Verkrustungen, Einmauerung stattfinden und dann auch politisch gebraucht und missbraucht werden können, lösbarer zu machen.

Der Autor und Moderator Michel Friedman © NDR
Am 1. Februar erschien Michel Friedmans neues Buch: "Judenhass". Es geht um den wachsenden Antisemitismus und darum, was die Politik, aber auch jeder und jede einzelne dagegen tun kann.

Dann gibt es kulturelle Konstruktionen. Zur ältesten kulturell-religiösen Konstruktion gehört, dass die erste globale Firma, nämlich die Kirche, ihre Handelsvertreter rausgeschickt hat, um zu missionieren und in der Welt eine Geschichte erzählt hat, nämlich dass die Juden Jesus umgebracht haben. Das wurde mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil dann korrigiert. Protestanten waren nicht sehr viel besser. Wenn man sich die lutherische Rede zur Judenfrage anhört, dann verzweifelt man auch, und die Frage ist gar nicht mehr, ob man religiös ist oder nicht. Das wurde über Jahrhunderte, fast zwei Jahrtausende, von Generation zu Generation weitergegeben und von der weltlichen Macht übernommen und missbraucht. Es war also fast 2.000 Jahre legal und legitim, Juden zu schlagen, auszubeuten, auch in die Ghettos zu werfen oder gar zu töten. Dass dann dazu mit Hitler eine völkische, rassistische Rassentheorie dazu kam, ist eine qualitativ verschlechterte und pervertierte zusätzliche Vernichtungsphantasie gewesen. Was uns aber heute auch noch begleitet, sind diese 2.000 Jahre.

Man kann es aber auch wieder philosophisch-weltlich übersetzen. Adorno spricht von - und ich finde das ist die beste und kürzeste Interpretation des Judenhasses - "vom Gerücht über die Juden". Gerüchte sind nicht greifbar. Ein Gerücht kann man nicht argumentieren und gegenargumentieren. Es gleitet einem sofort aus der Hand, sobald man es berühren will. Es gibt immer wieder genug Menschen, die diese Gerüchte schüren für ihre eigenen Interessen und ihre Zerstörungsinteressen, aber auch, um ihre eigene Identität zu korrigieren. Vor allem ihre schwachen Identitätsanteile. Sie sind also nicht verantwortlich, auch für ihr eigenes Leben und all das, was in ihrem Leben passiert, sondern es sind die Juden.

Sie sagen, dass dieser Mechanismus, den Sie gerade beschrieben haben, sich nicht nur auf Juden bezieht: Jean-Paul Sartre spricht vom Blick der anderen - also der Jude wird zum Juden gemacht. Simone de Beauvoir greift wenige Jahre später im Grunde den gleichen Gedanken auf, nämlich dass die Frau zur Frau gemacht wird. Es gibt offenbar auf einer strukturellen Funktionsebene gewisse Überschneidungen. Was aber ist das Spezifische am Hass?

Friedman: Wir müssen heute über den Hass reden. Denn letztendlich stellt sich bei allem, was wir diskutieren, die Frage des Hasses auf. Das ist ein sehr heftiges Gefühl. Ein ähnliches Gefühl, wie zum Beispiel die Wut, vergeht - der Hass bleibt. Hass ist chronisch und Hass ist hungrig, er wird nie satt. Hass ist nun mal das absolute Gegenteil eines demokratischen Gedankens. Der demokratische Gedanke ist Respekt. Das ist der Gegenbegriff des Hasses. Wir könnten auch sagen Menschenwürde, während der Hass den Menschen nicht mehr anerkennt und seine Würde sowieso nicht. Der Hass entmenschlicht die, die hassen. Wir erleben, dass der Hass sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch und gerade in den Demokratien wieder sehr viel breiteren Raum genommen hat. In dem Moment, wo der Hass in einer Demokratie mit einer Partei, die demokratisch gewählt wurde, aber deswegen nicht demokratisch ist, ein Bestandteil des politischen Betriebes wird, verändert sich etwas.

Wir sind jetzt gerade wieder ganz aktuell: Remigration ist ein ganz unmenschlicher Begriff, weil er eigentlich ein Versuch ist, ein weicheres Wort für Deportation zu finden. Die Partei des Hasses schafft es, die Sprache zu verändern. Sie schafft es, das Klima zu verändern - eine neue Rohheit. Wenn man seit Jahren auch diesen rohen Ton im öffentlichen Diskurs hört, aber vor allen Dingen auch in den sozialen Medien, dann droht Ansteckungsgefahr, dann droht man mit vergiftet zu werden.

An diesem Punkt merkt man, dass dieser Hass immer gekoppelt ist mit Sündenböcken. Es sind immer irgendwelche Menschengruppen, die an allem schuld sind. Wenn man die loswerden würde, wenn die weg wären, wenn die überhaupt nicht mehr da wären. Dann, so das Versprechen, würde das Leben für die Übriggebliebenen Glück sein. Dass viele Menschen darauf hereinfallen, ist entsetzlich. Aber umso gefährlicher und umso wachsamer müssen wir sein.

Sie sprechen in Ihrem Buch davon, dass wir uns gerade an einem Scheitelpunkt befinden. In Bezug auf den Antisemitismus in Deutschland infolge des 7. Oktobers schreiben Sie, dass Sie sich gewünscht hätten, dass es hier eine Bewegung gegeben hätte, wie beispielsweise in den USA oder in Frankreich. Wie schätzen Sie dazu die Bewegungen ein, die es jetzt seit Anfang Januar gibt, als Reaktion auf die Correktiv-Recherchen?

Friedman: Grundsätzlich bin ich außerordentlich beeindruckt von den Demonstration der letzten Wochen. Wir haben uns als Demokraten ein Stück unsere Straße wiedergeholt. Man muss sich darüber bewusst sein, dass in vielen Städten, auch Städten in Westdeutschland, die Montagsdemos immer noch laufen. Montagsdemos aber nicht, wie wir sie uns vorstellen, sondern in der Tradition von Pegida. Wir müssen uns vorstellen, dass in den letzten Jahren Querdenker-Demos, AfD, Reichsbürger dauernd auf der Straße waren. Ich bin sehr froh, dass wir nicht nur die Straße wieder für demokratische Zwecke besetzen, sondern auch mit den Gedanken, die damit zu tun haben.

Wahrscheinlich haben viele das Gefühl gehabt in den letzten drei, vier, fünf Jahren, dass man das hätte tun sollen können. Aber der Antrieb war nicht da. Es gab viele Sorgen, die die Menschen hatten, und der Antrieb ist ja auch etwas, was kommen muss, wenn sehr viele Menschen plötzlich das Gefühl haben, es bedroht uns etwas.

Aber das beinhaltet eben nicht das, was man drei Monate nicht gemacht hat, nämlich die Empathie auszudrücken für Menschen jüdischen Glaubens. Und ich muss das zweiteilen - das eine ist das Pogrom, dass die Hamas gemacht hat, als sie über tausend Menschen getötet hat, nämlich nicht mit dem "ob" des Tötens, das liegt im Terrorismus begraben, sondern das "wie": die Entmenschlichung der Opfer, Frauen, die tot waren, zu vergewaltigen, Kinderköpfe zu zeigen, verbrannte Leichen zu zeigen auf Social Media. Aber als es dann hieß "Tod den Juden" in Berlin oder anderswo, war das unmittelbar unser Problem. Aber - und das ist der Punkt: Bei Charlie Hebdo, als der Terrorakt war, sind wir Deutschen auf die Straße gegangen und haben mit den Opfern Mitleid gehabt und haben Empathie gehabt. Bei 09/11 waren wir plötzlich alle Amerikaner. Nur bei den Israelis waren wir nicht in der Lage, so zu fühlen. Dass Menschen verstehen, dass jüdische Menschen Angst haben, dass sie umarmt werden wollen, dass sie spüren müssen, dass das, was ihnen an Gewalt angetan wird, von der ganzen Gesellschaft als Angriff auf die ganze Gesellschaft empfunden wird. Wir waren da schon sehr einsam. Eigentlich ging es um die Umarmung, es ging darum zu spüren. Kein ihr und wir, also nicht die jüdischen Menschen und der Rest der Welt, sondern ein gemeinsames "wir".

Das hat nicht stattgefunden. Das hat Vertrauen gekostet. Das wird lange dauern, dieses Trauma im eigenen Land aufzuarbeiten und zu spüren. Es gibt wieder ein "Wir und Ihr". Es gibt noch etwas, was uns in dieser Zeit besonders als Juden und Jüdinnen begleitet hat: Trägt man noch den Davidstern in Deutschland, kann man eine Kippa in Deutschland tragen? Kann man seine Identität auch veräußerlichen? Kann man sichtbar sein als Mensch mit seiner Identität? Oder muss man unsichtbar werden, damit man nicht geschlagen oder bepöbelt oder gar getötet wird. Wie soll man das mit den Kindern verhandeln? Die Frage, ob man den Kindern sagt, zieht den Davidstern besser aus, denn in der U-Bahn oder in der Schule oder im Sportverein könnte es gefährlich sein. Damit müsste man den Kindern erneut signalisieren, Jude sein heißt in Gefahr sein, heißt, Angst haben zu können. Das war ein ganz großer Konflikt und bleibt ein Dilemma für viele Eltern. Denn ich möchte eigentlich, dass Kinder sichtbar sind und ganz naiv all das leben. Und zwar alle Kinder dieser Welt, und dann muss das auch für jüdische Kinder gelten können. Es gilt aber nicht.

Die Fragen stellte Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch hören Sie im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.

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