Nachgedacht: Realistischer als jeder Veteranentag - Venedig!
Für die "schönste Stadt der Welt" sollen in Zukunft fünf Euro Eintritt bezahlt werden, wenn man sie für einen Tag sehen will. Skandalös? Ulrich Kühn sieht es anders.
Venedig ist zum Verzweifeln schön. Man kann wieder und wieder hinreisen, wieder und wieder wird man staunen: So viel Schönheit, das ist doch nicht möglich. Aber es ist wirklich. Venedig ist der einzige mir bekannte Beweis dafür, dass eine Utopie, ein Nicht-Ort, ein Nirgendwo, das sich höchstens vorstellen lässt, in der Realität existiert. Eigentlich ist es noch doller: Etwas wie Venedig kann man sich nicht ausdenken. Aber es gibt Venedig.
Venedig verwandelt einen
Nach Venedig zu reisen kann deshalb ein Lebensereignis sein. Hast du Venedig gesehen, bist du nachher verwandelt: Du hast vielleicht begriffen, dass deine Idee von Wirklichkeit, dein Begriff von Realismus viel zu kleinmütig waren. Wenn schon dieses Venedig real ist und doch jede Fantasie übersteigt: Was erst wird möglich in einer Fantasie, der dieses herrliche, souveräne, wahre und wirkliche Venedig die Fesseln abgestreift hat? Die Serenissima erlöst Menschen von der Beschränktheit ihrer Visionen. Das ist Venedig.
Was zieht die Menschen in die italienische Stadt?
Ob das auch der Grund dafür ist, dass Millionen dorthin wollen? Ich weiß nicht. Wenn es so wäre, warum drängen, quälen, stapeln sich alle auf den paar Quadratmetern um den Rialto und San Marco und den Dogenpalast herum? Wo man doch nur ein paar Schritte zur Seite tun muss, um in Abenteuer wirklichster Unwirklichkeit und präsentester Vergangenheit einzutauchen und von der aufwühlenden Ruhe eines Geistesfriedens, den kein Kloster bietet, geheimnisvoll umfangen zu werden?
Klingt kitschig? Meinetwegen. Aber wenn das kitschig ist, was ist dann der massenhafte Venedig-Tagestourismus, der jetzt so laut darüber jammert, fünf Euro Eintritt bezahlen zu sollen? Venedig für einen halben Sonntag im Juli als Landgang vom Kreuzfahrtschiff, das inzwischen ein Stück entfernt am Festland anlegen muss, mit Atemschutzmaske und Sonnenschirm quer durch die Hauptattraktionen trampeln, ja, das kann man schon mal machen, es bleibt ja eindrucksvoll genug. Es wird aber doch eher eine Disney-Venedig- als eine Lebensverwandlungs-Erfahrung.
Auf "Blitzbesuche" ausgelegt
Die Umweltwissenschaftlerin Jane da Mosto, Direktorin der NGO "We are here in Venice", lebt seit fast dreißig Jahren in der Stadt. Sie beklagt, die fünf Euro Eintritt seien das falsche Signal für die Menschen und das Fortbestehen Venedigs. Jane da Mosto kann es beurteilen, also hören wir ihr zu: Sie sagt, die Stadt sei "auf Blitzbesuche ausgerichtet", die Souvenirs kämen "aus weit entfernten Fabriken", in einigen Restaurants esse man nicht gut, zudem äßen viele Touristen "im Gehen oder auf den Stufen einer Brücke. Man müsste sich", folgert Jane da Mosto, stattdessen "die Stadt langsam ansehen, spazierend, staunend, anders."
Aber bitte, ist das nicht genau der Schlüssel? Wir, die Touristen, bestimmen doch kräftig mit, wie wir unseren Venedig-Besuch gestalten. Wer nicht nur das Kanäle-Brücken-Disney-Venedig sehen will, wer offen ist für die ganze Schönheit, diese Schönheit zum Verzweifeln an allem, was man für möglich und wirklich hielt, reist am besten Ende November hin. Oder vielleicht im Januar. Nebel, Kälte, Klarheit, ein vibrierendes Jetzt in der unglaublichen Wirklichkeit dieser versinkenden Architektur, die jeden Traum übersteigt. Man sieht dann sogar die zu wenigen Menschen, die sich noch leisten können, in dieser Realität auch tatsächlich zu leben, aus der sie der Massentourismus vertreibt.
Die Stadt im Winter
Wer dies erfährt, kommt nicht in Versuchung, etwas so merkwürdig freudig Ersehntes wie die Einführung eines Veteranentags in Deutschland mit Realismus zu verwechseln. Nein, du musst Venedig erfahren. Im Winter. In Ruhe. Tagelang. Das ist erweiterter Realismus. Ein heilsames Erlebnis.