NachGedacht: Anders denken oder schweigen: Die Biennale in Venedig
Morgen wird die 60. Biennale in Venedig eröffnet. Ein Fest für Kunst, Experimentierfreude und immer wieder für den anderen Blick, findet Claudia Christophersen.
Alle zwei Jahre schlagen Herzen höher, wenn Venedigs Lagune in Gärten, Gassen und Palästen der Kunst den Vortritt lässt. Die Feuilletons sind in solchen Zeiten nicht sparsam, den Superlativ anzuwenden, das "noch nie Dagewesene" zu inspizieren. Tatsächlich darf man neugierig sein. Erstmals in ihrer 129-jährigen Geschichte kuratiert ein Südamerikaner die Hauptausstellung der Biennale. Adriano Pedrosa kommt aus dem sogenannten "globalen Süden". Viele Künstlerinnen und Künstler hat er aus diesen Teilen der Erde nach Venedig geholt. Und so heißt das Motto der Schau: "Stranieri Ovunque - Foreigners everywhere", "Fremde überall".
Documenta als mahnendes Zeichen für Venedig
Darüber lässt sich deutungsintensiv philosophieren: Was überhaupt ist fremd? Und was nicht? Wie geht es uns mit Unterschieden, mit Ungleichheiten? Und welche Haltung haben wir dazu? Wenn alles gleich wäre und ohne Unterschied - wie hoffnungslos uninteressant wäre unser Dasein. Ohne Unterschied keine Reibung, keine Entwicklung, kein Anders. Die Welt ist von Krisen durchgeschüttelt, und die Kunst weiß, dass sie reagieren muss.
Unvergessen solche Ambitionen vor zwei Jahren bei der documenta in Kassel. Von Farben, Mentalität und Kunst des globalen Südens versprach man sich neuen Schwung. Am Ende blieben verstörende Haltungen zu antisemitisch ausgerichteten Kunstwerken, mangelnde Argumentationsschärfe und eine große Portion Hilflosigkeit. Ein Desaster, von dem sich der deutsche Kulturbetrieb bis heute nicht erholt hat. Mahnendes Zeichen also für Venedig.
Anatolische Erde vor deutschem Pavillon
Wie wird sich Deutschland dort im "Germania"-Pavillon präsentieren? Der Bau, dem 1938 unverkennbar die Architektur der Nationalsozialisten übergestülpt wurde, ist seither notorisch schwer zu bespielen. Christoph Schlingensief, Gregor Schneider, Anne Imhof, zuletzt Maria Eichhorn haben sich prominent daran abgearbeitet. In diesem Jahr gestalten zwei Künstler den Pavillon: Ersan Mondtag, in Berlin geboren, Regisseur, hat in den Eingang des Pavillons anatolische Erde geschüttet. Eine Hommage an seinen türkischen Großvater, der als Gastarbeiter in einem Asbestzementwerk gearbeitet hat und an den Folgen früh gestorben ist.
Raumschiff als "ultimative Diaspora"
Und Yael Bartana. Sie ist in Israel geboren, lebt seit rund 15 Jahren in Deutschland, kennt ebenfalls Geschichte und Fragilitäten des Landes. Ihre Arbeiten sind immer Fragen, drehen Gedanken ins Utopische: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn wir hier und nicht dort wären? Bartana verlässt in ihren Arbeiten die unmittelbare Realität, geht an die "Schwellen", erkundet das eigentlich Unvorstellbare. Für Venedig hat sie ein Schiff gebaut, ein Raumschiff. Auch hier stellt sie die vielen Fragen und denkt die vielen "Vielleichts". Wohin wird die Reise gehen? Wo wird das Raumschiff landen? Wird es überhaupt landen oder im All bleiben? "Vielleicht reist es für immer", sagt die Künstlerin in einem Interview. Die Deutung ihres Werkes: Ein rettendes Raumschiff für Katastrophen, ein Ort im All für Menschen, die einen sicheren Zufluchtsort suchen. Yael Bartana sieht den Krisen der Welt radikal ins Auge: der Krieg im Nahen Osten, der Krieg in der Ukraine. Die Reise ins All wäre für Bartana die messianisch konnotierte "ultimative Diaspora".
Kunstwerk verborgen bis die Waffen ruhen
Ersan Mondtag schüttet Erde, Yael Bartana fliegt ins All. Kunst sucht immer Antworten. Oder sie schweigt. Das macht der israelische Pavillon. Die Künstlerin Ruth Patir hält ihr Werk hinter verschlossenen Türen, solange bis in Gaza die Waffen ruhen und die Geiseln der Hamas freikommen. Womöglich das stärkste Kunstwerk auf der diesjährigen Biennale.