Anne Imhof: Außenseiterin an der Spitze der Kunstwelt
Als Kind war sie die mit dem "bösen Blick", später Türsteherin. Heute ist Anne Imhof eine der bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Performance-Künstlerinnen. Bei der Biennale in Venedig gewann sie 2017 den Goldenen Löwen.
Wäre sie nicht Künstlerin geworden, dann hätte sie vielleicht Karriere als Boxerin gemacht, sagte Imhof einmal in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Mit Anfang 20 habe sie mit dem Kampfsport angefangen, um ihre kleine Tochter, die sie damals allein großzog, beschützen zu können.
Mit dem richtigen Training wäre womöglich ein Profi aus ihr geworden, so die spätere Biennale-Gewinnerin, die bekannt wurde als Performancekünstlerin, die Gruppen von Menschen in ihren Werken auftreten lässt.
Box-Performance als erstes Kunstwerk
In einem ihrer ersten Stücke verband Imhof ihre Leidenschaft fürs Boxen mit ihrer Leidenschaft für Musik: In einem Stripteaselokal im Frankfurter Bahnhofsviertel, das sie an den Sonntagen, an denen die Bar geschlossen war, als Studio anmietete, castete sie Menschen, die gegeneinander kämpfen sollten und ließ eine Punkband dazu spielen.
Der Kampf sollte so lange dauern, wie die Band spielte und die Band sollte so lange spielen, wie der Kampf dauerte. Diese erste Performance, die mehrere Jahre vor ihrem Kunststudium entstand, betrachtet Imhof als ihr erstes Kunstwerk, wie sie selbst später sagte.
Künstlerisches Erwachen in England
Imhof wurde 1978 in Gießen geboren und wuchs am Rande der katholischen Kleinstadt Fulda auf, in einem konservativ geprägten Umfeld. Manche Eltern hätten ihren Kindern verboten, mit ihr zu spielen, erzählte sie später im Interview und während eines Schuljahres auf einem englischen Internat hätten Betreuerinnen ihr sogar nachgesagt, sie habe den bösen Blick, die anderen Mädchen sollten nicht zu viel Zeit mit ihr verbringen.
In England hatte sie gleichzeitig ihr künstlerisches Erwachen: Im Kunstunterricht am Internat habe sie gelernt, Skulpturen zu zeichnen und ihr Kunstlehrer dort sei der erste gewesen, der in ihren Zeichnungen Potenzial gesehen habe, so Imhof.
Studium in Frankfurt
Ihr Kunststudium an der renommierten Städelschule in Frankfurt begann sie trotzdem erst relativ spät, im Jahr 2008. Nebenbei arbeitete sie als Türsteherin in einem Technoclub, um sich und ihre Tochter über Wasser zu halten. Sie sang in einer Band, die sich "Die Töchter aus gutem Hause" nannte, und wohnte zusammen mit Hausbesetzern in einer früheren Offizierswohnung.
Ihr kometenhafter Aufstieg als Künstlerin ging mit ihrem Abschluss an der Städelschule einher. 2012 wurde ihre Abschlussarbeit "School of the Seven Bells" mit dem Absolventenpreis ausgezeichnet und machte erstmals eine breitere Öffentlichkeit auf sie aufmerksam.
Goldener Löwe bei der Biennale in Venedig
Danach folgten schnell aufeinander Einzelausstellungen in Frankfurt, New York und Paris. 2015 wurde sie mit dem begehrten Preis der Nationalgalerie ausgezeichnet und 2016 sorgte ihr dreiteiliger Ausstellungszyklus "Angst" für Aufsehen: Teil I lief in Basel, Teil II im Hamburger Bahnhof in Berlin und Teil III im kanadischen Montréal.
2017 bekam Imhof den Auftrag zur Gestaltung des Deutschen Pavillons auf der Biennale von Venedig. Ihre dort gezeigte Arbeit "Faust" wurde mit dem Goldenen Löwen der Biennale ausgezeichnet und katapultierte sie endgültig an die Spitze der internationalen Kunstwelt. Als Imhof erfuhr, dass sie mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet werden würde, sei sie "verängstigt bis in die Knochen" gwesen, erzählte sie später in einem Interview.
"Künstlerin für die Endzeit"
Für "Faust" platzierte sie Dobermänner in einen Zwinger, den Besucher:innen der Ausstellung passieren mussten. Sie ließ Glasböden durch das Gebäude ziehen, unter denen Performer:innen sich zu dröhnenden Sounds durch den Raum bewegten. So thematisierte sie Motive wie Macht und Ohnmacht, Willkür und Gewalt, Ausgeschlossensein und Integration.
Ein Kritiker des Magazins "artnet" beschrieb die Show als eine Art "Laufsteg aus der Hölle", was durchaus positiv gemeint war. Die britische "Financial Times" bezeichnete Imhof in einem ein paar Jahre später erschienenen Porträt als "Künstlerin für die Endzeit". Ihre Werke seien das perfekte Abbild einer "kollektiv verstörten und vereinsamten Gesellschaft".
Performances als "Künstlerkollektiv"
Eine zentrale Rolle in "Faust" und ihren anderen zentralen Werken spielte Eliza Douglas, Model und Künstlerin aus New York, die seit 2015 Imhofs Lebensgefährtin ist. Die beiden Künstlerinnen ließen kurz nach ihrem Kennenlernen den Namen der jeweils anderen über ihre Herzen tätowieren, sie pendeln zusammen zwischen Berlin und New York und arbeiten bei allen Projekten eng zusammen.
Auch viele der anderen Darsteller:innen und Musiker:innen, mit denen Imhof in ihren Performances zusammenarbeitet, gehören zu ihrem privaten Umfeld. Manche Kunstkritiker:innen bezeichnen sie deshalb auch als Leiterin eines Künstlerkollektivs.
Ausstellungen in Paris und Amsterdam
Zu den Höhepunkten ihrer Karriere gehört nach dem Biennale-Sieg eine spektakuläre Ausstellung im Jahre 2021 Pariser Palais de Tokyo, während der sie und ihr Team die gesamten zwanzigtausend Quadratmeter Ausstellungsfläche bespielten.
Zuletzt war sie mit ihrem Werk "Youth" im Amsterdamer Stedelijk Museum zu sehen, ihre erste große Ausstellung, bei der sie auf Live-Performances verzichtete. Sie wolle die Performances aus der "Institution Museum" herausbringen, erklärte sie dazu in einem Interview, und sie künftig woanders stattfinden lassen.
Als nächstes wird Imhofs Werk im Kunsthaus Bregenz im österreichischen Vorarlberg zu sehen sein. Auch dort soll es wieder keine Performancekunst zu sehen geben, sondern Malerei und Skulpturen und das Spiel mit der Architektur vor Ort. Man werde das Haus nicht wiedererkennen, so die Ankündigung.