Letzte Zigarette der Geschwister Scholl: "Das ist eine Legende"
Vor 80 Jahren wurden die Geschwister Scholl und Christoph Probst, Gründer der Widerstandsgruppe "Weiße Rose", von den Nationalsozialisten hingerichtet. Der Hamburger Forscher Martin Kalusche hat alle verfügbaren Informationen rund um die "Weiße Rose" in einem Online-Archiv zusammengestellt.
"Das ist ganz viel Recherchearbeit am Rechner", erzählt Martin Kalusche. "Einige Quellen sind übers Internet gut verfügbar. Ich bin aber auch in Archiven, vor allem in München. Ich lese viele Bücher und telefoniere, unterhalte mich mit Kolleginnen und Kollegen, knüpfe Kontakte, werde angeschrieben - und das alles nebenberuflich in der Freizeit, die ich habe."
Martin Kalusche sammelt und digitalisiert also Briefe, Protokolle, Tagebucheinträge und Fotos - und bringt all das dann in eine exakte Reihenfolge, um das Jahr 1943 so gut wie möglich, Tag für Tag, zu rekonstruieren: "Ich habe schon bei einer früheren Arbeit gemerkt, dass es gut ist, wenn man in diesen Tag eintauchen möchte, wenn man versuchen möchte, ihn mit den Augen derjenigen zu sehen, die da gelebt haben, dass es hochinteressant ist, alle Quellen tagesaktuell zuzuordnen, um Verbindungen herzustellen und um die Tage selbst rekonstruieren zu können."
Berührende Fotos der Geschwister Scholl entdeckt
Manchmal entdeckt er bei seiner Recherche-Arbeit auch bisher Unbekanntes oder lange Verschollenes - wie zuletzt zwei Fotos von Hans und Sophie Scholl: "Wir dachten immer, dass die letzten Fotos der Geschwister Scholl vom 18. Februar stammen - da wurden sie erkennungsdienstlich behandelt. Das sind diese typischen Polizeifotos, die man kennt: mit Profil, Halbprofil und frontal. Tatsächlich bin ich bei der Recherche nach einem Zeitungsartikel, der in der "Süddeutschen Zeitung" vor 70 Jahren erschien, also zehn Jahre nach den Ereignissen, auf zwei Fotos gestoßen, die als die definitiv letzten Bilder der Geschwister Scholl gelten dürfen. Es sind Fotos, die am 22. Februar 1943 gemacht wurden, nach der Verurteilung im Justizpalast, vermutlich im Gefängnis Stadelheim gegen 14 Uhr. Diese Fotos sind sehr berührend - wir sehen die Beiden mit anderen Gesichtern, als wir sie bisher kannten. Es berührt einen emotional sehr stark, wenn man bedenkt, dass diese beiden jungen Menschen fotografiert werden und drei Stunden später nicht mehr leben."
Die Legende um die letzte Zigarette
Und noch etwas leistet Martin Kalusche mit seiner Arbeit: Er kann "Legenden entzaubern": Dinge richtig stellen, die seit Jahren offensichtlich falsch erzählt werden. Etwa, dass Hans und Sophie Scholl vor ihrer Hinrichtung gemeinsam noch eine letzte Zigarette geraucht haben sollen, so wie es auch in Filmen zu sehen ist: "Das ist eine Legende, die über 70 Jahre lang erzählt, immer geglaubt und nie hinterfragt wurde. In der jüngsten Literatur gibt es schon Signale der Kolleginnen und Kollegen, dass sie nicht ganz sicher sind, ob das passiert ist. Aber offensiv hinterfragt wurde diese Geschichte von einer letzten gemeinsamen Zigarette kurz vor der Hinrichtung nie. Ich habe einfach die Quellen, die schon lange bekannt sind, nebeneinander gelegt und habe gemerkt, dass es überhaupt keine Zeit und keine Gelegenheit gab für ein solches Störereignis im Rahmen des Justizvollzugs. Es gab eigentlich auch kein Motiv. Es ist eine Geschichte, die nach dem Krieg erfunden und seitdem immer wieder weitererzählt und im Film sehr stark in Szene gesetzt wurde. Aber sie ist so nicht passiert."
Martin Kalusche möchte einen barrierefreien Zugang ermöglichen
Martin Kalusche arbeitet ausschließlich in seiner Freizeit an dem Projekt - insgesamt zehn Jahre hat er angesetzt, um allein das Jahr 1943 zu rekonstruieren: "Mein Jagdfieber ist da angesprochen, ich bin ein Jäger und Sammler und habe dieses Projekt für mich entdeckt. Es sind unzählige Stunden und tausende von Reisekilometern damit verbunden. Das möchte ich jetzt übernehmen, damit andere einen leichten, barrierefreien Zugang zu diesen Quellen haben."