Lehrermangel wird immer größer: Was muss sich ändern?
Saskia Niechzial übernimmt nach den Sommerferien in Niedersachsen eine 1. Klasse. Im Interview spricht die Grundschullehrerin über individualisiertes Lernen und wie man den Lehrerberuf attraktiver machen könnte.
In Deinem Klassenraum ist alles vorbereitet - wie sieht es da aus?
Saskia Niechzial: Ganz muggelig sieht es mittlerweile aus. Wahrscheinlich nicht mehr so, wie man das vielleicht selbst noch kennt aus eigenen Schulzeiten. Es sind sehr individuell gestellte Plätze, tolle Gruppentische und Einzelarbeitsplätze, Pflanzen und bunte Wände. Ich hoffe, es ist eine heimelige Atmosphäre für alle, die am Samstag kommen.
Diese Gestaltung des Klassenraums ist ein besonderes Modell. Was steckt dahinter?
Niechzial: Das beinhaltet einerseits das zeitgemäßere Stellen des Klassenzimmers, dass man möglichst verschiedene Arbeitsplätze je nach Themeninhalt stellt. Es gibt Einzelplätze, um sich fokussiert und gut abgeschirmt einer Sache zu widmen. Es gibt Plätze, wo viel kooperatives Lernen möglich ist, also Gruppentische oder Tische für zwei Kinder. Es gibt Ecken, in denen man sich auf eine Bank setzen oder sich hinhocken kann - auch bewegtes Lernen ist da ganz großgeschrieben.
Aber es ist eben nicht nur dieser Part, sondern da dran hängt ein deutlich individualisiertes Lernen: nicht mehr im Gleichschritt vorwärts, jeden Tag jedes Thema für alle Kinder gleich und verpflichtend. Sondern die Kinder arbeiten auch zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Dingen, je nach Lernstand, je nach dem, mit welchem Fach sie sich gerade beschäftigen, was gerade vertieft und geübt werden muss. Dieses Modell vereint ganz viele von diesen Inhalten.
Die Einschulung ist ein großer Schritt ins Leben der Kinder. Wie bereitest Du Dich auf den Schritt vor?
Niechzial: Letztendlich muss man gut im Blick haben, dass da sehr junge Kinder kommen, Kinder, die gerade noch Kindergartenkinder waren und sich in sechs Wochen Sommerferien nicht zu völlig neuen Menschen umgewandelt haben. Dementsprechend braucht es Verständnis dafür, dass mit dem Schuleintritt da nicht irgendein Schalter umgelegt wird und sie sofort an alles gewöhnt sind, was in der Schule gefordert wird. Es ist richtig, das als Prozess zu betrachten, auch eine Eingewöhnungszeit einzuplanen, die in deutschen Kindergärten völlig selbstverständlich ist. Dass man Kindern zugesteht, in kleinen Schritten anzukommen, jeden Tag ein bisschen mehr. Und das auch schulisch im Blick zu haben, dass nicht von Tag eins an alles gleich so gelingt, dass Kinder sich an diese neue Umgebung gewöhnen müssen, vor allen Dingen an mich als neue Bezugsperson. Ich setze am Anfang sehr viel auf Beziehungsarbeit, dass sie eine gute Verbindung zu mir aufbauen können. Es ist wichtig, viele Pausen am Anfang zu machen, damit sich die Eindrücke immer wieder setzen können, mit denen Kinder hier konfrontiert werden. Es gilt einzuplanen, dass die Kinder sich nicht schon 45 Minuten am Stück konzentrieren können - das können Sie auch in zwei Jahren noch nicht -, aber dass man gut rhythmisiert, viel Abwechslung reinbringt und sie behutsam in dieses Konzept Schule hinein begleitet.
Die Kinder, die jetzt eingeschult werden, waren Kindergartenkinder während der Pandemie - merkt man so was?
Niechzial: Ja. In den letzten Jahren haben wir das schon deutlich gemerkt, dass bestimmte soziale Interaktion noch ein bisschen besser begleitet werden mussten. Man braucht ein Fingerspitzengefühl dafür, wie man miteinander umgeht, wie viel Nähe, wie viel Distanz in Ordnung ist. Da merkt man, dass es da nicht ganz so intuitiv vorhanden ist wie bei den Jahrgängen davor. Aber man merkt auch in vielen anderen Bereichen, dass auch die Gesellschaft sich immer wieder verändert, dass sich Familienkonstellationen regelmäßig ändern und sich Erziehungsströmungen immer wieder weiterentwickeln. Das sehen wir in den Kindern, die hier ankommen. Ich persönlich finde es total wichtig, sich darauf auch ein bisschen einzulassen, sich nicht nur dagegen zu stellen, sondern da auch ein bisschen mitzugehen und zu sagen: Die Gesellschaft ist in Veränderung, Familien sind in Veränderung - das wird immer so sein. Und ein Stück weit ist es unsere Profession, Wege zu finden, damit gut umgehen zu können.
Einer aktuellen Studie zufolge fehlen 8.000 Lehrkräfte in Niedersachsen. Merkt man das auch bei Euch an der Schule?
Niechzial: Ja, auf jeden Fall. Ich habe im letzten Halbjahr schon Stunden aufgefangen, die dringend gefehlt haben. Da wäre ich eigentlich noch in Elternzeit gewesen. Ich kann nicht gezwungen werden, wieder zurückzukommen. Ich bin schon freiwillig zurückgekommen, aber es gab einen gewissen Hilferuf, ob ich nicht ein paar Monate früher zurückkehren könnte. Wir merken jetzt, dass Förderstunden wegfallen, die eigentlich ganz wichtig wären, weil das Begleiten von Kindern eine herausfordernde Aufgabe ist. Da sind viele Kräfte wichtig und entlastend, und dann ist auch viel mehr möglich. Im Umland müssen Schulen später mit dem Unterricht anfangen und gestaffelt anfangen, weil sie das sonst nicht mehr abdecken können. Es fallen erste Stunden weg, etwa Musikstunden, das merkt man hier überall im Umland. Das ist keine einfache Situation. Wir merken den Lehrkraftmangel in den Grundschulen schon sehr deutlich.
Das ist erst der Beginn. Die große Pensionierungswelle kommt noch, gleichzeitig gibt es weniger Studienstarterinnen und -starter und weniger Leute halten durch bis nach dem Referendariat. Was muss sich ändern?
Niechzial: Das ist gerade eine ganz große mediale Frage. Es gibt ganz viel Werbungsmaterial, gerade von höheren Stellen. Teilweise ist das nicht ganz so gut gelungen, wie man gerade in Baden-Württemberg gesehen hat.
Zur Information: "Wer viel frei haben will, soll Lehrer werden", stand da auf großen Plakaten. Das hat nicht allen Lehrern gut gefallen.
Niechzial: Der Wortlaut ist tatsächlich ein Punkt: Auf jeden Fall braucht es Stärkung und Wertschätzung der Personen, die noch motiviert in diesem System sind. Sie sollten gesellschaftlich, aber auch politisch unterstützt und wertgeschätzt werden. Es sollte geschaut werden, wo sie entlastet werden können. Wie können wir nicht nur gucken, dass wir neue Kräfte bekommen, sondern wie können wir die halten, die noch da sind? Das wird ganz oft vergessen. Es braucht sicherlich eine Reform im Bereich der Quereinsteiger, dass die Hürden in den nächsten Jahren geringer werden.
Ich denke, dass sich dieser Beruf auch nicht mehr so sehr auf dem Angebot des Beamtentums ausruhen kann - das merke ich sehr im Austausch mit dem Nachwuchs. Denen ist dieser Status nicht mehr so wichtig, weil die ganz andere Lebensziele haben: Die wollen flexibel sein, die möchten Freiheit haben - das ist einfach der Tenor dieser Generation. Und da zieht das Argument Beamtentum und langfristige Sicherheit gar nicht mehr so sehr. Es braucht an bestimmten Stellen auch andere Entlohnungsmodelle, weil viel Zusatzengagement nicht vergütet wird. Im besten Fall bekommt man ein, zwei Entlastungsstunden, in Grundschulen oft gar nichts.
Auch die Ausbildung insgesamt muss sich ändern. Dieser Riesenbruch zwischen diesem ganzen Theoriekomplex und diesem Praxisschock, der viele Nachwuchslehrkräfte ereilt, muss dringend reformiert werden. Als letzten Teil finde ich auch ganz wichtig, psychische Unterstützung zu geben, zu schauen, dass Lehrkräfte mental fit bleiben. Dazu gehören Modelle wie Supervision oder kollegiale Fachberatung. Da gibt es an ganz vielen Stellen sehr viel Nachholbedarf.
Das Interview führte Mischa Kreiskott.