Indigene Perspektiven beim Festival Theaterformen in Braunschweig
Am Donnerstag beginnen in Braunschweig die "Theaterformen". 15 internationale Produktionen werden bis zum 23. Juni auf den Bühnen des Staatstheaters und des LOT-Theaters gezeigt. Die künstlerische Leiterin Anna Mülter spricht bei NDR Kultur über das diesjährige Programm.
Frau Mülter, die Theaterformen wollen dezidiert auch politisch sein, sie beginnen wenige Tage nach der Europawahl. Weitere wichtige Wahlen stehen in diesem Jahr noch an - das hat aber bei der Planung vermutlich keine Rolle gespielt, oder?
Anna Mülter: Nein, wir beziehen uns nicht auf tagespolitische Ereignisse. Wir sind auch nicht die Tageszeitung. Die Künstler*innen arbeiten aber alle sehr politisch, und zwar bezogen auf ihre jeweiligen Kontexte, in denen sie leben, oder in denen die Stücke entstehen. Ich kann ein Beispiel geben: Die polnische Regisseurin Magda Szpecht hat das Stück "Spy Girls" in Estland produziert, direkt an der russischen Grenze, und da ist der Ukraine-Krieg sehr nah. Sie setzt sich damit auseinander, wie Online-Aktivismus mithilfe von Dating-Apps von dort aus auch gemacht werden kann.
Es geht also um politische Akzente, die zu Themen und Herausforderungen unserer Gegenwart Bezug nehmen?
Mülter: Genau. Da haben wir auch ein ganz besonderes Projekt in diesem Jahr: "Ko’eyene", das indigene Perspektiven in den Mittelpunkt stellt. Es kommen viele verschiedene indigene Künstler*innen aus Lateinamerika nach Braunschweig, und die werden ein großes Programm im Theaterpark machen. Das ist etwas ganz Besonderes, weil diese Künstler*innen ganz selten in dieser Anzahl nach Europa kommen. Die gestalten hier ihr eigenes Programm, und sie haben sich das Thema "Ko’eyene" gegeben, und das bedeutet in der Sprache der Terena "das Heute" oder "Gegenwart". Dieses Heute ist schwer zu fassen, weil in dem Moment, wo man es fassen will, entgleitet es einem. Sie versuchen, einen Raum zu schaffen, wo wir für einen Moment im Hier und Heute ankommen, zur Ruhe kommen und auch mal laufen und das entdecken können, was gerade präsent ist.
Das heißt, Begegnungen mit Menschen im öffentlichen Raum sind auch ganz wichtig, um miteinander ins Gespräch zu kommen?
Mülter: Ja, ins Gespräch kommen und auch den öffentlichen Raum nutzen für die Agenda, die die Künstler*innen für ihre Themen und ihre Anliegen mitbringen. Da haben wir zum Beispiel Tiziano Cruz zu Gast, ein argentinischer indigener Künstler. Sein Stück spielt im Theater, aber es beginnt nicht im Theater, sondern in Braunschweig auf dem Schlossplatz. Da versammelt er sich mit dem Publikum, aber auch mit über 30 Personen aus der lateinamerikanischen Community. Wir gehen in einer großen Prozession zusammen vom Schlossplatz durch das Shoppingcenter, das sich hinter der Schlossfassade verbirgt, bis zum Theater. Da wird auch ein Manifest gehalten, das er zwar in Teilen mitbringt, aber auch mit den lokalen Communitys immer auch überarbeitet und aktualisiert. Da werden also auch Anliegen der lateinamerikanischen Community in Braunschweig mit einfließen.
Man sagt, Musik sei eine universelle Sprache, die jeder versteht. Wie ist es bei Theater? Da spielt Sprache schon eine wichtige Rolle.
Mülter: Sprache ist wichtig. Übersetzung ist hier ein großes Thema. Alle Stücke, die Text verwenden, haben Übertitel, sowohl in Deutsch als auch in Englisch. Aber es gibt auch Stücke, in denen Sprache gar nicht so eine große Rolle spielt. Wir zeigen nicht nur Theater, wir zeigen auch Performance und Tanz. Aber natürlich spielt Sprache für uns auch in der Vorbereitung des Festivals eine große Rolle. Ganz viele Künstler*innen, die kommen, sprechen zum Beispiel gar kein Englisch. Da arbeiten wir auch mit tollen Leuten aus Braunschweig zusammen, die die Künstler*innen betreuen und für sie übersetzen.
Wie ist das Gefühl, wenn ein Festival so langsam Gestalt annimmt, aber vieles trotzdem noch offen bleibt, was dann erst während des Festivals entsteht?
Mülter: Das ist die spannendste Zeit. Wir bauen überall auf, in allen Räumen ist was los. Die ersten Künstler*innen-Gruppen sind schon da und entwickeln ihre Arbeiten. Die Nervosität steigt, aber auch die Vorfreude.
Man spricht oft davon, dass das Miteinander schwieriger geworden ist, auch wenn es darum geht, im öffentlichen Raum etwas stattfinden zu lassen. Hat sich das in letzter Zeit verändert?
Mülter: Ich finde es ganz wichtig, mit dem Theater auch in den öffentlichen Raum zu gehen. Wir müssen uns an diesen Orten mit unseren Kunstformen, mit unseren Inhalten, den Ausdrucksformen auch behaupten. Der öffentliche Raum wird oft durch Kommerzialisierung dominiert. Das ist für mich ein ganz wichtiges Anliegen, dass wir diesen Raum nicht aufgeben.
Das Interview führte Philipp Schmid.