Improvisieren an der Orgel: "Eine sehr authentische Art, Musik zu machen"
Die Orgelspielerin Chiara Perneker studiert Kirchenmusik an der Musikhochschule Lübeck. Im Interview spricht sie über das Besondere am Orgelspiel und erzählt, was eine moderne Orgel alles kann.
Frau Perneker, wo haben Sie angefangen, Orgel zu spielen?
Chiara Perneker: Eine Klavierlehrerin meinte, dass ich ein sehr experimentierfreudiges musizierendes Mädchen gewesen sei und hat mir deswegen die Orgel empfohlen. Denn das ist ein Instrument, bei dem Experimentieren zur Tagesordnung gehört.
Wie geht man dann vor? In welcher Kirche haben Sie angeklopft und gesagt: Ich will hier gern mal an die Orgel?
Perneker: In meinem Fall war das so, dass an meiner Schule Orgelunterricht angeboten wurde, von einem Kirchenmusiker aus der Nachbarschaft. Er hat mit mir erste Übungen gemacht, um mich ans Pedalspiel heranzuführen.
Hat das Musikgymnasium in Würzburg eine Orgel - eine Kapelle mit Orgel?
Perneker: Ja, genau. Das ist aber die Ausnahme. In aller Regel ist es so, dass manchmal Kinder nach dem Gottesdienst kommen und fragen, ob sie mal ein paar Tasten drücken dürfen. Klaviervorkenntnisse sind aber meistens nicht verkehrt und oft auch da.
Wann haben Sie das erste Mal im Gottesdienst vor Leuten gespielt?
Perneker: Da war ich erst elf oder zwölf Jahre alt und habe nur ein einziges Lied begleitet, was ich vorher im Unterricht geübt habe. Ich war zu dem Zeitpunkt noch gar nicht so groß, sodass ich hinter dem Spieltisch verschwunden bin und das beinahe so aussah, als würde die Orgel von alleine spielen.
Welcher Choral war das?
Perneker: "Herr, gib uns Mut zum Hören."
Das Besondere am Orgelspiel ist, dass vergleichsweise viel improvisiert wird. Was schätzen Sie daran?
Perneker: Es ist eine sehr authentische Art, Musik zu machen. Ich finde es wahnsinnig spannend, nachher mit Leuten darüber zu reden, was sie gehört haben, welche musikalischen Elemente oder Stile sie erkannt haben und was ich mir dabei gedacht habe. Das ist oftmals gar nicht mal deckungsgleich. Es sagt aber sehr viel darüber aus, was für Hörgewohnheiten, was für einen Background die Leute haben und was für ein Background ich habe - oder was ich zu dem Zeitpunkt gehört habe. Es ist sehr viel lebensnaher.
Wie experimentell werden Sie, wenn Sie in Kirchen vor Menschen improvisieren?
Perneker: Ich versuche, eine Balance zu finden, je nach dem, wie die Stimmung so ist. Es gibt bestimmte Atmosphären in der Liturgie, die beispielsweise sehr meditativ sind - da muss man nicht alle Register laut ziehen. Aber weil Sie "experimentell" angesprochen haben: Ja, ich benutze zum Beispiel ganz gerne Cluster oder versuche, Vieltonsphären zu schaffen. Die Orgel ist ein ganz wunderbares Instrument dafür, weil es unten im Kirchenschiff oft gar nicht so gut hörbar ist, was für eine Technik ich eigentlich angewandt habe, weil der Raum und die Register für mich mitspielen.
"Cluster" bedeutet: mit dem Arm auf alle Tasten, oder?
Perneker: Das kann es sein, muss es aber gar nicht. Es reicht schon, viele benachbarte Töne mit der Handfläche oder nur mit den Fingern abzudecken. Aber ja, es kann natürlich auch mal ein bisschen wilder werden, und man benutzt sogar den Unterarm für die komplette Tastatur. Man kann Unterschiede in der Anschlagsfrequenz machen: Repetiere ich das? Ist es eher perkussiv? Oder sind das liegende Cluster? Die Variationsmöglichkeit ist da viel größer, als viele meinen. Es ist nicht immer schrecklich und laut, sondern oft auch einfach Klangflächen-betont.
Ist es manchmal so, dass Sie sich bei einer vollen Kirche nicht trauen oder nicht wissen, womit Sie anfangen sollen?
Perneker: Ja, manchmal ist es das schon. Aber das ist eben das Schöne am Improvisieren, dass man sich irgendwie findet. Es ist weniger als bei einem Literaturstück, dieser Druck, etwas falsch machen zu können, weil es ein Stück eigener Musik ist. Wenn ich in dem Moment das Gefühl habe, ein bisschen nervös zu sein, dann drückt es das vielleicht auch aus. Das ist vollkommen okay.
Das Fach, dass Sie unter anderem an der Hochschule in Lübeck studieren, heißt: Improvisation, Komposition und neue Medien. Worum geht es da?
Perneker: Neue Medien - das meint den Einsatz von Musiksoftware für Audio, Video und Installationen in einer Komposition oder einer Improvisation.
Mit einem Zimbelstern ist also mittlerweile nicht Ende bei modernen Orgeln, da gibt es noch mehr, richtig?
Perneker: Ja, sicher. Da gibt es die Hyperorgeln: Das ist ein relativ schwammiger Oberbegriff für Instrumente, die neue Erweiterungen, neue Tools haben. Etwa eine eigene Tastatur, wo man Vierteltöne oder Aliquotenklänge, also Obertöne, noch stärker hörbar machen kann, indem es nicht nur eine Quinte und eine Terz gibt, sondern auch eine Septe, eine None und eine Terzquarte zum Beispiel. Oder es gibt auch eine Winddrossel. Das sind alles Erweiterungsmöglichkeiten, um noch stärker in den Klang eingreifen und ihn formen zu können.
Und das, was Sie aufzählen, gibt es mittlerweile bei modernen Kirchenorgeln oder Konzertorgeln?
Perneker: Es ist ein Trend. An Ostern wird die neue Orgel der St. Nikolai-Kirche am Klosterstern eingeweiht - das ist eines dieser Instrumente. Aber natürlich sind die Instrumente noch sehr spärlich über Europa verteilt. Es gibt sehr unterschiedliche Modelle. Die in St. Nikolai beispielsweise ist eine "normale" neobarocke Orgel mit Erweiterung, während es Orgeln wie in Kassel gibt, die komplett als neue Orgel angelegt sind. Es gibt auch weitere Projekte, die in diese Richtung arbeiten.
Was haben Sie schon konkret in diesem digitalen und experimentellen Bereich gemacht?
Perneker: Ich habe zum Beispiel im letzten Herbst bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck für einen Stummfilm ein improvisatorisches Konzept angelegt. Unter anderem kam dort auch Elektronik zum Einsatz, beispielsweise durch das Spielen am LinnStrument - das ist eine Art moderner Synthesizer, der Klänge oder Samples, die man vorher aufgenommen hat, auf eine Tastatur bringt, die man dann bedienen und noch mal neu formen kann. Generell kann man auch Live-Aufnahmen machen und den Klang verfremden und über Lautsprecher neu produzieren. Das habe ich zum Beispiel bei diesem Stummfilm gemacht.
Das Interview führte Mischa Kreiskott.