Kirchenmusik im Wandel: Mehr als Bach und Buxtehude
Kirchenmusikerinnen und -musiker leisten wichtige gesellschaftliche Arbeit. Doch die Kirchen müssen sparen. Ein Kirchenmusiker aus Niedersachsen und der Kulturbeauftragte des Rats der Evangelischen Kirche Deutschland, Johann Hinrich Claussen, berichten von ihrer Arbeit.
Als Gottesdienste in der Pandemie-Zeit nicht möglich waren, lud Benjamin Dippel aus der Northeimer Gemeinde St. Sixti in Südniedersachsen telefonisch zum Choralsingen ein. Jede Woche nahm der Kirchenmusiker gemeinsam mit seiner Kollegin Maike Davids eine neue Ansage auf. So konnten sie auch den Gemeindemitgliedern, die nicht mit dem Internet vertraut sind, ein Angebot machen: "Wir hatten bis zu 600 Anrufe in einer Woche", berichtet Benjamin Dippel.
Diese Anrufe kamen aus dem ganzen Bundesgebiet. Benjamin Dippel hatte offensichtlich einen Nerv getroffen. Gemeinsam zu musizieren ist für viele Gläubige unverzichtbar. "Ich kann das hier für diese Stelle sagen: Wir singen quasi von der Wiege bis zur Bahre und greifen das ganze Spektrum von Menschsein im Leben ab", berichtet Dippel.
Kirchenmusik als gesellschaftliche Aufgabe
Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker schaffen außerdem musikpädagogische Angebote und Konzerterlebnisse - auch für Menschen, die sich keiner Glaubensgemeinschaft zugehörig fühlen. Darüber hinaus erfüllen Kirchenmusikerinnen und -musiker noch eine weitere wichtige gesellschaftliche Aufgabe, betont der Kulturbeauftragte des Rats der Evangelischen Kirche Deutschland, Johann Hinrich Claussen: "Der sonntägliche Gottesdienst im Kirchenjahr, Taufen, Trauungen, Beerdigungen - das ist nicht gering zu schätzen. Das ist nicht nur eine kirchliche Beschallungs-Dienstleistung, sondern das hat einen gesamtgesellschaftlichen kulturellen Auftrag: nämlich für eine ästhetisch gestaltete Ritual-Kultur mitzusorgen", meint Claussen.
Finanzielle Einbußen durch Kirchenaustritte
Im 21. Jahrhundert steht die Kirchenmusik vor schwierigen Herausforderungen. Mit den zahlreichen Kirchenaustritten sinken die Einnahmen. "Wir sind in einer riesigen Veränderung auf diesen beiden Ebenen, organisatorisch, finanziell, aber auch inhaltlich und ideell", so Claussen.
Denn auch die Antwort auf die Frage, mit welcher Art von Musik Menschen im kirchlichen Rahmen erreicht werden, ist heute komplexer als zu Zeiten von Schütz, Buxtehude, Bach und Co. "Die Menschen heute sind viel mehr musikalischen Einflüssen ausgesetzt. Das ist ein großer Reichtum. Und der muss sich irgendwann irgendwo widerspiegeln, auch in der Kirchenmusik, ohne billige Anpassung, aber eben doch als eine viel größere Spielwiese. Da wird ganz viel probiert", berichtet Claussen.
St. Sixti setzt Liederwünsche in Gottensdiensten um
In der Gemeinde St. Sixti in Northeim zum Beispiel konnten Gemeindeglieder in Form eines CD-Covers das "Lied ihres Lebens" an einer Stellwand in der Kirche anbringen. Ob Kirchenlied, Schlager oder Popsong - in speziellen Gottesdiensten wurde den Geschichten zu den Liedern Raum gegeben. "Wir hatten ganz berührende Gottesdienste. Da merkte man auch wieder, wir öffnen uns, ermöglichen eine Form von Beteiligung. Das ist dieses ganz direkte 'Es wird sich meines Liedes angenommen', andere singen es mit mir, für mich. Wir Kirchenmusikerinnen und -musiker gestalten das Lied, haben eine kleine Combo gebildet mit Klavier, Gitarre und Perkussion - das ist auch noch mal etwas ganz anderes als die Orgel", erzählt Dippel.
Kirchenmusiker als Kulturmanager gefragt
Kirchenmusiker wie Benjamin Dippel sind heute auch Kulturmanager. Denn nicht in allen Gemeinden reicht es aus, ein bevorstehendes Konzert nur anzukündigen: "'Monteverdi Marienvesper' heißt eben nicht, die Kirche ist brechend voll. Das ist kein Selbstläufer. Man muss vermitteln." Also bringt er auch schon mal QR-Codes zur Marienvesper in der Kirche an oder lädt eine ganze Schulklasse ein, sich zwischen die Pfeifen der Orgel zu stellen.
Sparmaßnahmen und befristete Verträge gefährden Kontinuität
Dippel hat eine feste Stelle als hauptamtlicher Kirchenmusiker - das aber ist längst nicht mehr Standard. Als Kirchenkreiskantor ist er für die musikalische Fachberatung der Kirchengemeinden im Umland zuständig und kennt die Probleme der vielen nebenamtliche Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker, deren Verträge zum Teil immer nur befristet laufen.
Dippel fordert, Kirchenmusikerinnen und -musikern finanzielle Sicherheit zu geben: "Dieses Netz ist natürlich immer in Gefahr aufgrund der Sparmaßnahmen. Jetzt geht es darum, das zu erhalten und die Wichtigkeit von Kirchenmusik in all ihren Formen zu unterstreichen, dass wir da daran festhalten und sagen: Darunter geht es nicht."