Ein römischer Schienenpanzer wird in einem Glaskasten ausgestellt. © NDR
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AUDIO: Antiken-Serie "Anthropolis" jetzt komplett: "Es ist so aktuell" (8 Min)

Faszination Antike: "Reise in das Innere des Menschen"

Stand: 24.01.2024 12:54 Uhr

Fans der Antike kommen in dieser Saison im gesamten Norden auf ihre Kosten. Ein Überblick quer durch alle Sparten und norddeutsche Bundesländer.

von Anina Laura Pommerenke

Es war eine der kuriosen Meldungen im Jahr 2023: Demnach sollen Männer angeblich sehr oft, einige sogar täglich, ans alte Rom denken. Über diesen Netz-Trend ist viel debattiert und geschmunzelt worden. Doch wer die Programme norddeutscher Kultureinrichtungen in dieser Saison aufmerksam studiert hat, könnte zu der Erkenntnis kommen, dass auch norddeutsche Programmmacherinnen und -macher überdurchschnittlich oft an die Antike denken! Warum ausgerechnet jetzt?

Hamburger Schauspielhaus: "Selten so dicht dran an der Stadtgesellschaft"

Für große Begeisterung bei Publikum und Presse hat in dieser Spielzeit etwa die fünfteilige Antikenserie "Anthropolis" am Schauspielhaus Hamburg gesorgt. Für Intendantin Karin Beier, die bei diesem Projekt Regie geführt hat, ist es in dieser krisengeschüttelten Zeit essenziell, die grundsätzlichen Fragen zu stellen und sich mit grundlegenden Themen auseinanderzusetzen. Dabei helfe der Blick in die Antike, so Beier. Demnach müsse man in Frage stellen, ob das sicher geglaubte Fundament der aufgeklärten Moderne nicht doch rissig sei.

Ebenso hätten die großen Dichter der Antike ähnlich wie heute den Menschen selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Dem künstlerischen Duo Karin Beier und Roland Schimmelpfennig scheint mit diesem Ansatz ein regelrechter Clou geglückt zu sein: Das "Hamburger Abendblatt" urteilte nach der Aufführung des Stücks "lokaste" beispielsweise: "Selten war das Theater so dicht dran an der Stadtgesellschaft. Und selten war es von so erschreckender Relevanz."

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Ein Mann sitzt auf einer Bühne an einem Klavier und spielt mit einer Hand, während er mit der anderen an einem Mann gefesselt ist. © Fabian Hammerl

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Hamburg freut sich auf Musical-Weltpremiere von Disneys "Hercules"

Auch andernorts in Hamburg kommen Fans der Antike auf ihre Kosten: Im Theater Neue Flora ist ab März 2024 die Weltpremiere des Disney-Musicals "Hercules" zu sehen. Es erzählt die Geschichte des Göttersohns, der aus dem Olymp verstoßen wird und dann auf der Erde seinen Platz suchen muss. Im Februar steigt in der Hansestadt ein richtiges Odysseus-Festival. Das Thalia Theater nimmt zu Beginn des Monats "Die Odyssee" in einer Inszenierung von Antú Romero Nunes wieder auf den Spielplan. Die Inszenierung war 2018 zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden. Beide Abende sind bereits ausverkauft - auch das Publikum scheint sich eben nach der Antike zu sehnen.

An der Staatsoper ist am 24. Februar das Ballett "Die Odyssee" wiederzusehen, die Inszenierung nach dem Epos von Homer stammt vom scheidenden Ballett-Chef John Neumeier. Für ihn nicht nur eines der bedeutendsten Stücke der Dichtkunst. Für Neumeier steht im Vordergrund, wie ein Mensch nach einem zehn Jahre dauernden Krieg wieder zu sich selber finden muss. Dabei stehe Odysseus vor der Herausforderung, aus dieser im negativen Sinn männlich definierten Macho-Welt von Kampf und Krieg zu seiner Ganzheit zurückfinden und seinen femininen Teil wiederzuentdecken. Themen, die auch fast 30 Jahre nach der Uraufführung virulenter denn je erscheinen.

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Die Odyssee als literarisch-musikalische Reise in der Elbphilharmonie

Ebenfalls am 24. Februar ist in der Elbphilharmonie die Odyssee als literarisch-musikalische Reise mit Texten von Homer, Shakespeare, Schiller und Kazantzakis in musikalischen Bildern von Thilo Thomas Krigar zu sehen. Corinna Harfouch als Penelope und Stefan Wilkening als Odysseus stehen auf der Bühne, begleitet werden sie von Mitgliedern der Berliner Philharmoniker. Das Werk wurde nun speziell für die Premiere in Hamburg um Chorstücke erweitert. Die Rolle als innere Stimme oder als das Gegenüber der Protagonisten übernehmen junge Sänger des Neuen Knabenchors Hamburg.

Für den Komponisten Krigar ist die Odyssee einer der grundlegenden Texte der europäischen Kultur: "Das Besondere ist, dass dieser Held ein moderner Protagonist ist, ein reisender See- und Geschäftsmann aus einer Ein-Kind-Familie. Er findet aus jeder Situation durch seine Klugheit heraus, doch diese Auswege, die er aus diesen schwierigen Situationen findet, sind gleichzeitig die Saat des nächsten Unheils." So gesehen sei er ein sehr moderner Mensch, findet Krigar, der etwa in der Begegnung mit dem Zyklopen Polyphem ein Gleichnis für Kolonialismus sieht.

Komponist Krigar: "Unvoreingenommen und neu auf die Welt blicken"

Jeder fünfte bis sechste Film, den Hollywood heute produziere, basiere auf Elementen der Erzählstruktur der Odyssee, glaubt Krigar. Der Stoff sei seit seiner Entstehung bis heute immer präsent gewesen. Dabei habe die griechische Geisteswelt keine Einteilung in gut und böse vorgenommen, um den Blick auf den ganzen Prozess freizugeben und ein tieferes Verständnis der Abläufe zu gewinnen: "Die Charaktere werden gezeigt, wie sie sind. Aus den Konstellationen ergeben sich die Konflikte." Daher seien die Mythen auch heute so spannend, weil man ganz neu und unvoreingenommen auf die Welt blicken könne und einfach sehe, was da ist: "Im so-sein eines jeden".

Die Odyssee sei ursprünglich in 24 Gesängen vorgetragen worden, weil aber nur noch der Text erhalten ist, hat sich Krigar mit seiner Komposition um eine Art Vervollständigung des Erlebnisses bemüht. Teil des Bühnengeschehens sind außerdem Arbeiten von André Krigar, dem Bruder des Komponisten. Sie sind ab dem 18. Februar in der Galerie Leiss zu sehen sein. Die Veranstaltung in der Elbphilharmonie ist bereits ausgebucht.

Allee-Theater-Intendant Adam: "Personen lassen sich problemlos in die heutige Zeit versetzen"

Im Allee Theater, der Hamburger Kammeroper, steht aktuell “Orpheus in der Unterwelt” auf dem Programm. Die schwungvolle Operette von Jacques Offenbach interpretiert den antiken mythologischen Stoff neu. Intendant und Regisseur Marius Adam ist überzeugt, dass die großen Themen, die die Menschen damals schon bewegt haben, nie alt werden: "Liebe, Leidenschaft, Betrug, Verrat - all das ist zeitlos."

Außerdem habe Offenbach seine Operette noch um ein weiteres hochaktuelles Thema erweitert: die Doppelmoral der Gesellschaft. Adam ist überzeugt, dass sich alle Personen aus der antiken Geschichte problemlos in die heutigen Zeit versetzen ließen: "Subtil verpackte Zeit- und Gesellschaftskritik machen diese Operette zu einem seit über 150 Jahren zeitlosen Stück; Situationskomik und mitreißende Melodien begeistern seit vielen Jahren", so der Intendant.

Reisen in das Innere des menschlichen Wesens

Auch der Hamburger Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor widmet sich regelmäßig in vielen Facetten der Antike. Seit 2023 nimmt der Chor jährlich ein Händel-Oratorium dazu auf den Plan. Der Theologe und Kulturbeauftragte der EKD, Johann Hinrich Claussen, äußerte sich zur Faszination Antike auf Einladung des Chores bei einem begleitenden Akadamietalk wie folgt: "Mythen sind Ur-Geschichten. Das heißt: Sie erzählen nicht, wie es damals war, sondern wie es immer ist. Sie zielen nicht auf eine historische, sondern eine existenzielle Wahrheit."

Ähnlich bewertet es auch Isabella Vértes-Schütter, Intendantin am Ernst Deutsch Theater. Es fasziniere sie, dass die Dramatiker der Antike bereits die Themen bewegt haben, die wir auf unseren Bühnen verhandeln. Dazu gehören für sie Liebe und Tod, Macht und Ohnmacht, Schöpfung (oder Schaffenskraft) und Zerstörung: "In jedem antiken Epos steckt eine Reise in das Innere des menschlichen Wesens und nur um diesen Kern herum verändert sich unsere Gesellschaft. So lassen sich die Metaphern in jede Zeit übertragen und stets aktuell interpretieren." Auch ihr Haus arbeite deshalb aktuell mit einer antiken Vorlage für die Eröffnungsproduktion der Spielzeit 2024/2025. Dann übergibt sie die Leitung des Privattheaters an ihren Sohn, den Schauspieler Daniel Schütter.

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Ein Theater und davor viele Menschen © Oliver Fantitsch Foto: Oliver Fantitsch

Ernst Deutsch Theater

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"Elektra" in Lübeck und Braunschweig

Auch das Theater Lübeck feiert diese Saison die Premiere von "Elektra" von Richard Strauss in einer Inszenierung von Brigitte Fassbaender. Das Musikdrama basiert auf der Tragödie von Sophokles und nimmt Bezug auf die griechische Mythologie. "Elektra - wir müssen reden" heißt es unterdessen ab dem 24. Mai am Staatstheater Braunschweig. Für Dramaturgin Katharina Gerschler ein spannendes Projekt, da antike Stoffe ihrer Meinung nach die grundlegenden Themen wie Menschenrechte, Flucht und Migration, Kreisläufe von Gewalt und Rache verhandeln, deren Mechanismen sich daher an diesen Texten sehr genau studieren lassen: "An ihren oft widersprüchlichen Figuren ist nichts glattgebügelt oder versöhnlich. Als archetypische Geschichten lassen sich die Dramen des Aischylos, Sophokles oder Euripides für jede Zeit neu lesen, ihre Ambivalenzen und Grauzonen ausleuchten", so die Dramaturgin.

Auch Regisseurin Rebekka David befragt den Text aus einer zeitgenössischen Perspektive heraus, um verborgene Muster aufzuspüren und sie ins Heute zu denken. Im antiken Elektra-Stoff sucht sie, wie einst schon Hugo von Hofmannsthal, der mit dem Stoff seinen ersten großen Bühnenerfolg feiern konnte, nach familiären Konstellationen, die als Brennglas für gesamtgesellschaftliche Problemlagen dienen können: So öffnen ihrer Erkenntnis nach Sprachlosigkeit und Emotionalisierung, Blasenbildung und Cancel Culture in aktuellen Debatten Gräben zwischen zunehmend unvereinbaren Positionen. Es scheine immer weniger möglich zu sein, noch gemeinsame Ausgangspunkte oder Grundlagen für Diskussion und Verständigung zu finden: "Aber wie sollen wir gemeinsam für eine Gesellschaft kämpfen, in der alle Gehör finden, wenn wir es nicht einmal schaffen, am Abendbrottisch die eigene Familie zu verstehen?", so die erkenntnisleitende Frage der Regisseurin.

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Volkstheater Rostock: Neue Fragen an alte Mythen

Das Volkstheater Rostock arbeitet aktuell an der Oper "Orpheus und Eurydike", die im März Premiere feiern wird. Sie behandelt eine der großen Mythen der Menschheit: Orpheus, der Sänger, der mit seiner Musik Götter rühren und die Gesetze der Unterwelt außer Kraft setzen kann. Dessen Liebe so groß ist, dass er als erster Mensch lebendig aus dem Totenreich zurückkehrt. Doch am Ende das Gebot der Götter nicht einhalten kann, sich nicht nach seiner Eurydike umzudrehen auf dem Weg zurück zu den Lebenden und sie deswegen endgültig verliert.

Hausregisseur Rainer Holzapfel stellt neue Fragen an die alte Geschichte: ob die Bedingung der Götter überhaupt zu erfüllen ist - oder die Rückkehr Eurydikes eigentlich nur eine perfide und falsche Hoffnung ist. Bei der Mehrsparten-Produktion soll der Tanz eine herausragende Rolle spielen.

Antike begeistert auch im Museum

Auch für viele Museen im Norden steht die Befassung mit der Antike immer wieder im Fokus. Das Landesmusem Hannover etwa zeigt ab dem 15. März gemeinsam mit dem römischen Museo Nazionale Etrusco die Ausstellung "Gründer Roms. Etruskische Schätze aus der Villa Giulia". Die Kultur und weiträumigen Beziehungen der Etrusker trugen nicht nur zur Entstehung der "Ewigen Stadt" bei, sondern wirkten sich bis in die jüngere Vergangenheit als Vorbild für die Staatsgründung Italiens aus, heißt es dazu vom Museum. Die Ausstellung soll dabei insbesondere die Sammlungspraxis des 19. Jahrhunderts beleuchten, in dem die Antike wichtiger Bezugspunkt für Gesellschaft und Politik war.

Für das Varusschlacht Museum in Kalkriese ist die Antike natürlich das Thema schlechthin. Derzeit plane man an einer Sonderausstellung zur römischen Kleidung in der Antike. Besonders stolz ist man auch darauf, dass sich der spektakuläre Schienenpanzer des Hauses zurzeit im British Museum in London für eine Highlight-Ausstellung in eine wahrlich hochkarätige Auswahl an Objekten aus ganz Europa einreihen darf. Die Antike begeistert eben nicht nur über alle Sparten der Kulturwelt hinweg, sondern auch international. 

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