Einsamkeit: Drückt ein Gefühl den Zeitgeist aus?
Einsamkeit hat besorgniserregende Effekte auf die Demokratie: Denn Menschen, die einsam sind, verlieren das Vertrauen in das Gemeinwesen. Dabei hatte der Begriff ursprünglich sogar eine positive Konnotation.
In seinem Ursprung war der Begriff "Einsamkeit" etwas Gutes, meint der Philosoph Odo Marquard. Der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart erfand ihn als deutsche Übersetzung für das lateinische Wort "unio mystica", also für den Zustand der Seele, in dem sie sich verbunden mit Gott fühlt. Für Meister Eckhart bedeutete "Einsamkeit" eigentlich "Vereinigung". Über die Jahrhunderte ist diese Bedeutung verloren gegangen. "Einsamkeit" bezeichnete irgendwann nur noch das, was andere von außen an einem mystischen Gottsucher wahrnahmen: Seine Abgeschiedenheit von anderen Menschen.
Marquard schreibt: "Wo späterhin Gott aus dem Spiel geriet, war der Mensch dann nur noch abgeschieden, nur noch allein mit sich selber: eben im heutigen Wortsinne 'einsam': Aber auch und gerade diese 'bloße' Einsamkeit kann positiv erfahren und darum gesucht werden: es gibt positiven Einsamkeitsbedarf." Weil Menschen irgendwann sterben müssen, argumentiert Marquard, sollten sie zu Lebzeiten ihre Einsamkeitsfähigkeit trainieren. Denn im Sterben ist jeder allein. Und die Menschen, die uns am Herzen liegen, werden uns irgendwann allein zurücklassen - oder wir sie.
Problem: Mangel an Einsamkeitsfähigkeit
"Was uns modern vor allem plagt, quält und malträtiert, ist also nicht die Einsamkeit, sondern der Verlust der Einsamkeitsfähigkeit: die Schwächung der Kraft zum Alleinsein, der Schwund des Vermögens, Vereinzelung zu ertragen, das Siechtum der Lebenskunst, Einsamkeit positiv zu erfahren. Die eigentliche Malaise unserer Zeit ist nicht die Einsamkeit selber, sondern der Mangel an Einsamkeitsfähigkeit", so der Philosoph. Gegen diesen Mangel hilft Bildung. Wer Bildung genossen hat, ist nicht auf das angewiesen, was in seiner unmittelbaren Gegenwart geschieht. Mit Hilfe von Büchern, Bildern und Tönen, mit Fantasie und Erinnerung kann sich die Person Orte und Menschen auch selbst vergegenwärtigen.
Das "Einsamkeitsbarometer" der Bundesregierung gibt dem Philosophen recht - auch wenn Einsamkeit hier nicht als Lebenskunst angesehen wird, sondern als Problem, das es zu lösen gilt. Je besser Menschen gebildet sind, desto weniger sind sie von Einsamkeit betroffen.
Bildung hilft gegen Einsamkeit
Die gute Nachricht dazu ist: Das Bildungsniveau in Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Bildung hilft, weitere Risikofaktoren für Einsamkeit in Schach zu halten. Wer besser gebildet ist, bleibt gesünder und hat ein geringeres Armutsrisiko. Beides bedingt sich gegenseitig: Krankheit und Armut machen einsam. Einsamkeit macht krank und erschwert es, einen guten Job zu finden. Bildung ist der Schlüssel, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
Eine wichtige Rolle für die "Kultur der Einsamkeitsfähigkeit" spielt für Odo Marquard nicht nur Bildung, sondern auch Religion. "Gott ist für den Religiösen der, der noch da ist, wenn niemand mehr da ist. Der Nichtreligiöse glaubt, dass das nicht ausreicht: kommunikativ scheint ihm der profane Spatz in der Hand besser als die Taube auf dem Dach auch dann, wenn diese Taube den heiligen Geist symbolisiert. Aber Menschen - sterblichkeitsbedingt einsame Lebewesen - sind seinsmäßig nicht so gestellt, dass sie es sich leisten könnten, auf solchen Trost leichtfertig zu verzichten."
Einsamkeit mit besorgniserregenden Effekt
Nachdrücklich warnen Autorinnen und Autoren, die sich mit der Einsamkeit befassen, vor einem besorgniserregenden Effekt: Einsame Menschen vertrauen ihren Mitmenschen weniger. Sie akzeptieren eher Gewalt und halten die Demokratie nicht für selbstverständlich. Das Einsamkeitsbarometer kann diese Beobachtung bestätigen: So vertrauen nur 50,6 Prozent der einsamkeitsbelasteten Personen dem Rechtssystem, verglichen mit 63,8 Prozent der Menschen ohne erhöhte Einsamkeitsbelastungen.
Besonders schwach ist das Vertrauen in die Politikerinnen und Politiker und in die Parteien. Etwa 25,1 Prozent brachten einen starken Verschwörungsglauben zum Ausdruck, im Vergleich zu 16,3 Prozent bei den Befragten ohne erhöhte Einsamkeitsbelastungen.
Vereinsamung der Menschen fördert totalitäre Ideologien
Das scheint eine alte These der Philosophin Hannah Arendt zu bestätigen. Sie erklärte das Scheitern der Weimarer Republik und den Aufstieg der totalitären Ideologien im 20. Jahrhundert mit der Vereinsamung der Menschen: "Das Hauptmerkmal der Individuen in einer Massengesellschaft ist nicht Brutalität oder Dummheit oder Unbildung, sondern Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein."
Es sind Einschätzungen, die sich auch mit aktuellen Befunden des Göttinger Soziologen Berthold Vogel decken, der das Phänomen "Einsamkeit" untersucht hat. Dies wiederum sei ein Nährboden für Ressentiments und Verschwörungsmythen. Autoritäre politische Parteien oder Gruppen lebten von diesem "Management der Ressentiments", schreibt der Soziologe aus Göttingen.
Stadtteiltreffs und Kirchen mit Angeboten gegen Einsamkeit
Für diese Parteien oder Gruppen sei es wichtig, Ohnmachtserfahrungen und Minderwertigkeitskomplexe zu befeuern und am Leben zu erhalten, so Berthold Vogel in dem Buch "Einsamkeit und Ressentiment." Stadtteiltreffs und Kirchen könnten gegensteuern, denn noch bieten sie häufig Begegnungsräume. Wenn man will, kann man Belege für beide Seiten der Moderne finden. Der Fortschritt macht auf der einen Seite einsam: Traditionelle Bindungen fallen weg. Die Gesellschaft wird immer älter, wodurch der Druck auf die ganz Jungen und die ganz Alten steigt. Ob jemand im Alter die Zuwendung bekommt, die er braucht, hängt zunehmend von seinen finanziellen Möglichkeiten ab.
Das Vertrauen in die Mitmenschen ist bei vielen erschüttert. Aber auch für das Gegenteil finden sich Hinweise: Der Fortschritt macht weniger einsam, weil Minderheiten in einer liberalen, wohlhabenden Demokratie seltener ausgegrenzt werden. Medien schaffen neue Kommunikationswege. Sorgearbeit wird fairer geteilt. Bildung ist mehr Menschen zugänglich. Beziehungen sind weniger durch Abhängigkeit und Gewalt geprägt, sondern beruhen auf freier Wahl und gegenseitiger Zuneigung. Die Voraussetzungen dafür, weniger oder wenigstens selbstbestimmter einsam zu sein, sind also gar nicht so schlecht. Wir haben es in der Hand, was wir daraus machen.