Literaturkritik mit schelmischem Lächeln - Trauer um Hanjo Kesting
Heute hat NDR Kultur eine traurige Nachricht erreicht: Hanjo Kesting ist tot. Der langjährige Leiter der Abteilung "Kulturelles Wort" starb kurz nach seinem 82. Geburtstag in seiner Wahlheimat Hamburg. Ein Nachruf.
Vor allem als Radiomann, aber auch als Buchautor und Vortragender hat er ein großes Publikum erreicht. Wie bedeutend er war, wie sehr er uns geprägt hat, versucht Alexander Solloch aus der Literaturredaktion in seinem Nachruf zu beschreiben.
Tadel stets mit schelmischem Lächeln
Der Mann, der in den Büchern lebt, der in ihnen auf- und abwandert, der sie durchdenkt, von allen Seiten wägt, sich von ihnen nährt, von ihnen schwärmt oder sie auch mal tadelt mit schelmischem Lächeln - so steht er uns vor Augen, Hanjo Kesting. Überraschend aber dann ein Archivfund aus dem Frühjahr 1973 - ein junger NDR Reporter berichtet vom SPD-Parteitag in Hannover.
Die Rede Willy Brandts hatte Bebelsche Dimensionen, und der sozialdemokratische Parteivorsitzende konnte sich nach seinem 150minütigen Grundsatzreferat vom Parteitag feiern lassen. Anders als Helmut Schmidt, der gestern die Klingen für die parteiinterne Diskussion geschärft hatte, war Brandts Rede getragen von entschiedenem Integrationswillen. Hanjo Kesting als NDR Reporter 1973
Hanjo Kesting: Lust an der Analyse
Die Lust an der Analyse, die Freude an der sprachlichen Differenzierung, sie blitzen schon hier auf, beim Politikredakteur Hanjo Kesting. Dass er in seinen aktuellen Sendungen immer auch kulturelle Themen unterzubringen versuchte, blieb höheren Instanzen im NDR nicht verborgen: 1973 wurde der studierte Literaturwissenschaftler Leiter der Abteilung "Kulturelles Wort" in Hannover, da war er gerade einmal 30 Jahre alt.
Mit Elan und einer Neigung zur galanten Provokation machte er sich an die Arbeit. 1975, zum 100. Geburtstag Thomas Manns, sandte er dem Lübecker Großschriftsteller eine bitterböse Gratulation:
Was ihn beispielsweise von seinem Bruder Heinrich unterscheidet, ist, dass er sich so gut für öffentliche und offizielle Feiern eignet. Thomas Mann ist staatspolitisch wichtig, ja unentbehrlich. Er ist ein Bewahrer, er bildet Synthesen, er gibt jedem etwas. Sein Marktwert ist noch immer immens. Seine literarische Zukunftswirkung ist ziemlich unerheblich. Von weitem betrachtet, beginnt Thomas Manns Gestalt rapide zu schrumpfen. Hanjo Kesting über Thomas Mann,1975
Tatsächlich liebte er Thomas Mann - liebte, selbst vaterlos aufgewachsen, Mann wie einen Übervater: "In einer Art von ödipalem Reflex habe ich dann eine Reihe von Autoren im NDR versammelt, um eine Polemik gegen Thomas Mann zu starten. Und ich habe mich sozusagen zum Stimmführer gemacht, indem ich diese polemischen Thesen anschlug, die dann vom SPIEGEL veröffentlicht wurden und einen Sturm von Leserbriefen entfachten."
Aufgabe des Literaturkritikers: Das kritische Denken entfachen
Das Publikum an- und aufzuregen, es für die Literatur und das kritische Denken zu entfachen, Autorinnen und Autoren um sich zu scharen, um mit ihnen etwas Radiophones zur Feier des Wortes auszuhecken - so in etwa lässt sich Sinn und Bestimmung dieses langen schönen Lebens resümieren.
Wie viele Generationen von Büchermenschen er inspirierte, spürte man als viel jüngerer Kollege dann, wenn man im Gespräch mit Hörerinnen oder Autoren beiläufig Begriffe wie "Hannover" oder "NDR" oder "Kulturelles Wort" fallenließ. "Oh, Hanjo Kesting", hieß es dann immer sofort - auch noch fast 20 Jahre nach seinem Eintritt in den Ruhestand.
Seine Sendereihen haben die Radiolandschaft geprägt
Wenn er - was er allerdings später in vielen Essays und Büchen revidierte - Thomas Manns "Zukunftswirkung" anzweifelte, so kann man doch unrevidierbar sagen, dass seine eigene enorm war: Sendereihen, die er ins Leben rief, haben noch heute in einer völlig veränderten Radiolandschaft Bestand: "Autoren lesen" etwa (heute bekannt unter dem Namen "Der Norden liest") oder "Am Morgen vorgelesen" - mit sehr klaren Vorstellungen davon, woran die literarische Qualität eines Textes zu messen sei:
An seiner sprachlichen Gestalt, das ist das wichtigste Kriterium; an seinem thematischen Reichtum, an der Fülle der Motive, der inneren Bezüge, der Reflexion auf Weltgeschehen. Das sind ja auch Vorgänge, über die man sich nicht vollständig Rechenschaft ablegen kann beim Lesen. Hanjo Kesting über literarische Qualität
Ihm war die Schönheit die wichtigste Kraft im Leben
Stand man als Jüngerer allzu staunend vor Hanjo Kestings Belesenheit und Gelehrsamkeit, verwickelte er einen spornstreichs in ein Gespräch über die Mannschaftsaufstellung von Rot-Weiss Essen im Meisterschaftsendspiel 1955, über die er ebenso Präzises zu sagen wusste, wie über die Figurenkonstellation in den Romanen Jane Austens. Fußball, Literatur, das gute Gespräch - all das war ihm Ausdruck der für ihn wichtigsten Kraft im Leben: der Schönheit. Gern aber zitierte er Schiller: "Auch das Schöne muss sterben!"
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