Armgard Seegers Karasek , aufgenommen auf der 68. Frankfurter Buchmesse, in Frankfurt/Main (Hessen). © picture alliance / Frank May | Frank May

Armgard Seegers: "Kritik hat den Künstlern immer geholfen"

Stand: 05.03.2023 06:00 Uhr

Das Verhältnis von Kultur und Kritik steht aktuell auf dem Prüfstand. Nicht erst seit dem Hundekot-Vorfall an der Staatsoper Hannover muss das Verhältnis von Künstlerinnen und Künstlern und denen, die ihr Schaffen bewerten, neu definiert werden.

Die vielfach ausgezeichnete Intendantin Karin Beier (Deutsches Schauspielhaus in Hamburg) hat die Theaterkritik einst als "Scheiße am Ärmel der Kunst" bezeichnet. Dass es mit der "Scheiße" zwischen Kunst und Kritik mal so konkret werden könnte wie jüngst beim "Goecke-Gate" in Hannover, damit dürfte auch Beier nicht gerechnet haben. Entsprechend aufgeregt fielen die Reaktionen landauf und landab aus. Das Verhalten des inzwischen abgesetzten Ballettdirektors: inakzeptabel, da sind sich wohl alle einig. Doch wie sollte das Verhältnis zwischen Kunst und Kritik im Optimalfall aussehen? Handelt es sich dabei wirklich um Gegner oder doch eher um Verbündete, die eigentlich für die gleiche Sache brennen? Ein Gespräch mit der Hamburger Theater- und Literaturkritikerin Armgard Seegers.

Frau Seegers, was haben Sie gedacht, als Sie vom "Goecke-Gate" gehört haben?

Armgard Seegers: Erstmal ist der Vorgang natürlich unmöglich. Ein Künstler, egal ob das jetzt ein Schauspieler, ein Tänzer oder Schriftsteller ist, kann nicht eine andere Person im wahrsten Sinne des Wortes mit Scheiße beschmieren. Diese Reaktion ist vollkommen drüber. Dass sich jemand auf diese Weise gegen eine Kritik wehrt, das halte ich für einen geradezu irren, also wirklich im klinischen Sinne, irren Angriff! Das geht gar nicht, dass man Kritiker öffentlich angreift. Die Kritik ist eine gesetzte Instanz, die das, was in der Kunst stattfindet, begleitet. Das ist seit 150 Jahren so und das hat beiden immer sehr geholfen. Das hat den Kritikern geholfen, aber auch den Künstlern.

Wenn es niemanden mehr gibt, der Theater, Literatur oder Musik öffentlich beurteilt, dann wird auch das Ereignis nicht mehr wahrgenommen. Wie soll sich das sonst verbreiten? Wo stellt man heute noch eine Öffentlichkeit her, wenn nicht durch den Austausch zwischen Kritik und Künstler? Insofern sind Kritiker wichtig. Zum Zweiten habe ich gedacht, dass die Sitten so verroht sind, dass man alles, was heutzutage gesagt wird, als Angriff auf seine Identität wahrnimmt und sich immer verletzt und nicht miteinbezogen fühlt. Da kann man ja überhaupt nicht mehr miteinander umgehen, wenn man nicht mal sagen darf, dass es bei einem künstlerischen Produkt an diesen und jenen Stellen beispielsweise an einer Ausdruckskraft darstellerischer Leistung mangelt.

Sie und Ihr Mann, der 2015 verstorbene Literaturkritiker Hellmuth Karasek, haben ja nun beide als Kritiker gearbeitet. Haben Sie jemals erlebt, dass die Situation zwischen Kritiker und Kultur so eskaliert?

Seegers: So etwas gab es früher nicht. Es war eben die Instanz der Kritik. Ich habe hauptsächlich übers Theater geschrieben, als Schauspieler oder Regisseur hat man das akzeptiert, was gesagt worden ist. Ich bin aber mal unter anderem von einem Schauspieler am Samstagmorgen um halb acht zu Hause angerufen und wüst beschimpft worden, was ich da für einen Dreck geschrieben hätte. Der war wütend! Der war allerdings auch nur mit einem Gastspiel in Hamburg, der kannte mich vielleicht nicht. So Kleinigkeiten sind schon mal passiert. Es gab die Spiralblock-Affäre mit Stadelmaier, aber eigentlich kenne ich das nicht.

Wie verstehen Sie das Verhältnis zwischen Kritikerinnen und Kritikern zur Kultur und zu Kultureinrichtungen?

Seegers: In erster Linie bin ich als Kritikerin eine Fürsprecherin für die Kultur. Und genauso bin ich in erster Linie eine Vermittlerin gegenüber den Lesern, Zuhörern, Zuschauern, die sich informieren wollen. Ich muss sowohl an die Konsumenten denken, also an die Rezipienten, die Leser, Hörer und Zuschauer als auch an die Menschen, die diese Kunst herstellen. Natürlich muss ich über den Herstellungsprozess gut oder sogar besser als die meisten anderen Menschen informiert sein. Heutzutage wird es gelegentlich praktiziert, dass man sagt, über Musik oder über Theater - da kann jeder schreiben. Da bin ich ein absoluter Gegner davon. Man muss sich sehr genau mit der Materie auskennen. Man lässt ja auch nicht jeden ein Auto zusammenbauen oder jeden einen Haarschnitt machen, obwohl manche Frisuren so aussehen. Also: Man sollte Fachmensch sein, für die Materie leidenschaftlich engagiert. Man sollte die Materie lieben. Ich liebe nichts mehr als Theater in der Kunst. Man sollte aber auch immer an seine Rezipienten denken, weil man für sie der oder die Erste ist, die das sieht und das einordnet.

Wenn Sie an Ihre eigene Karriere zurückdenken: Wie war Ihr Standing wenn Sie an den großen Hamburger Theatern ein- und ausgegangen sind?

Seegers: Gut! Ich habe als Regieassistentin am Deutschen Schauspielhaus angefangen. Die Leute, die mit mir in diesem Bereich gearbeitet haben, wussten, dass ich eigentlich vom Theater komme, Theaterwissenschaft studiert habe und mich fürs Theater brennend interessiere. Mir hat mal ein verantwortlicher Mensch von einem Theater gesagt: Das war jetzt nicht nett, deine Kritik, aber wir wissen ja, dass du immer für die Sache bist. Wir ziehen eigentlich am gleichen Strang. Wir wissen, dass du uns nicht in die Pfanne hauen willst, sondern dass du das beurteilen willst, was du siehst. Es haben mich auch immer sehr viele Leser angesprochen, dass sie sich auf mein Urteil verlassen können. Das hat mir gut gefallen: Ich war in regem Austausch mit beiden, mit den Theatern und mit den Lesern.

Finden Sie denn, dass die Theater angewiesen sind auf die Kritiker?

Seegers: Ja, das denke ich! Ich finde ein allgemeines Kritiker-Bashing von wegen: Ihr seid alles Eunuchen und könnt es nur nicht selber, wollt aber drüber schreiben - das ist vollkommen unangebracht! Wir können auch etwas, nämlich gucken und schreiben. Wenn es das alles nicht mehr gibt, dann werden die Theater sich umgucken, wie wenig Resonanz sie im öffentlichen Raum haben. Dann wird es ganz andere Vertriebswege geben für die Informationen über die Stücke. Ich glaube nicht, dass die Leute, die TikTok gucken, sich unbedingt für die nächste Premiere am Thalia Theater oder am Deutschen Schauspielhaus interessieren.

Gleichzeitig gibt es immer weniger Raum und Budgets für Kritiken.

Seegers: Wir haben eine deutliche Krise auch im Journalismus, unter anderem durch Kostenexplosionen und das Runterfahren von Manpower. Es gibt inzwischen viel weniger Publikationskanäle als vor 20 Jahren, als es noch viel mehr Zeitungen gab und viel mehr Kulturberichterstattung in den Sendern. Ich glaube, das verstärkt den allgemeinen Zuschauerschwund noch. Wenn es weniger Informationsquellen für die Zuschauer gibt, dann wird auch der Besuch zurückgehen - das bedingt sich gegenseitig und das finde ich sehr schade.

Es gibt auch kaum noch Spezialisten. Jemand, der über Musik schreibt, muss sehr viel mehr über Musik wissen und viel besser zuhören können als jemand, der gelegentlich ins Konzert geht. Genauso muss jemand, der ins Theater geht, um darüber zu schreiben, sehr genau und sehr viel sehen können und auch sehr viel Hintergrundwissen haben, um das richtig einordnen zu können. Wenn die Zeit das nicht mehr erlaubt, der Aufwand und der Ertrag nicht mehr in einem korrekten Verhältnis stehen, dann ist das nicht nur für die Veröffentlichungskanäle der Rezensionen schlimm, weil nicht mehr so durchdrungene Rezensionen entstehen. Sondern es ist auch für die Theater oder Musiker schlecht, weil sie ja niemanden mehr haben, der ihre ganzen Anstrengungen und ihr ganzes Können richtig einordnen kann.

Das Interview führte Anina Pommerenke.

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