Eine Frau schaut frontal in die Kamera mit einem leichten Lächeln. © Maria Ossowski
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AUDIO: Über das leidenschaftliche Verhältnis von Kunst und Kritik (11 Min)

Über das leidenschaftliche Verhältnis von Kunst und Kritik

Stand: 25.02.2023 06:00 Uhr

Die Kulturjournalistin und Kritikerin Maria Ossowski schreibt über das oft verbissene, oft aber auch konstruktive und humorvolle Verhältnis von Kunst und Kritik.

von Maria Ossowski

Was war das kürzlich für eine Aufregung, als der Ballettdirektor des Staatstheaters Hannover, Marco Goecke, einer Kritikerin die Exkremente seines Dackels ins Gesicht schmierte. Ein indiskutabler Vorgang, der auf einzigartig unappetitliche Weise gezeigt hat, welche wüsten Gefühle Kritik auslösen kann. Heftiger Groll auf die Kritik ist aber keineswegs neu, verbale Schmierereien sind kein Privileg der Social-Media-Gesellschaft. Kein Wunder, einerseits ist die Kritik als Vermittlerin zwischen Kunst und Publikum hoch willkommen. Andererseits wurden die scharfsinnigsten, scharfzüngigsten Kritiker oft gefürchtet. Peter Handke fürchtete Marcel Reich-Ranicki, Anton Bruckner fürchtete Eduard Hanslick. Es lohnt sich also, der Sache ein bisschen grundsätzlicher nachzugehen.

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Friedrich Lufts "Stimme der Kritik"

"Kritik, diese selige Schmarotzerkunst! Die Bühne singt. Wir geben das Echo." Der Verfasser dieses Zitats, ein soignierter Herr, nimmt mit dem Verlöschen des Lichtes Platz am Außenrand einer Mittelreihe im Theater, und kaum ist der Schlussapplaus der Premiere verebbt, huscht er hinaus, Gespräche vermeidet er. Denn alle wussten: Sonntag um 11.45 Uhr gilt im Äther sein Wort. Über Jahrzehnte. Friedrich Lufts "Stimme der Kritik" hörten in Berlin Taxifahrer und Studienrätinnen, Köchinnen und Rentner, Studenten, Schülerinnen und Handwerker. Die herrliche Blüte des Berliner Theaters mit Boleslaw Barlog, Claus Peymann, Peter Stein oder Luc Bondy - Friedrich Luft begleitete sie, goss sie pfleglich und düngte sie gar, wenn nötig.

"Wir Kritiker sind parasitär Beschäftigte", beschrieb Luft seinen Berufsstand. "Der Kritiker lebt aus zweiter Hand. Gut, wenn er es weiß. Gut, wenn er es nicht vergisst." Dieser radikal subjektive, immer taktvolle, verklausuliert formulierende und doch bestens verständliche Vermittler und Liebhaber der Bühnenkunst gestaltete das Berliner Nachkriegs-Theaterwunder in seinen viertelstündigen Radiofeuilletons mit. Atemlos und respektvoll beschrieb Luft die Autoren, die Regie, die Schauspieler, selbst wenn ihm eine Aufführung misslungen schien. "Auch der Verriss soll noch liebevoll sein, auch die bittere Kritik amüsant und provozierend", so Luft. Der Kritiker gehöre zum Theater, immer, er sei ein Teil der Bühne.

Die niveauvollen Zeiten der Kritik sind vorbei

Schnitt. Ein großer Sprung. 33 Jahre nach Lufts letzter Kritik schmiert ein Choreograf in Hannover der Kritikerin einer angesehenen Zeitung während der Premieren-Pause die Exkremente seines Dackels ins Gesicht. Unter den Titelzeilen "Dackelgate" oder "Dackelalarm", aber auch "Arroganz der subventionierten Bühnen" oder "Kritik der unreinen Vernunft" versuchen seither Feuilletonisten, neben dem Thema des manifesten Verlustes guter Manieren auch eine Krise wahlweise der Kulturschaffenden und ihrer Bedeutung oder der Kunst-Kritik als Gattung auszumachen und zu analysieren.

Die niveauvollen Zeiten der Kritik, so klagen viele Künstlerinnen und Künstler, also die von Kurt Tucholsky, Alfred Kerr und Friedrich Luft, seien unwiederbringlich vorbei, auch die von Theodor Adorno und Michael Althen und all jenen oft erst posthum verklärten Lichtgestalten, die im Kunstkritiker-Olymp residieren. Angesichts dieses Pessimismus sollten wir wider den Stachel löcken. Denn das Verhältnis zwischen Kunst und Kritik war bereits vor "Dackelgate" kein Freundschaftliches.

Kunstkritik: Lange Tradition der Bösartigkeit

Ein anekdotischer Blick in die Geschichte der Kunstkritik beweist mit wenigen Affären, dass Bösartigkeit zum schlechten Dauerton des Gegen- und Miteinanders von Kunst und Kritik gehörten. Adorno kam die Musik von Jean Sibelius vor wie die schäbige Fotografie des elterlichen Wohnzimmers. Geht's missgünstiger? Dem französischen Komponisten Adolphe Adam beschied ein Kritiker, er habe fast ein Meisterwerk geschaffen. Adam antwortete, er danke für die Kritik, leider sei darin ein Wort zuviel.

Auch verbaler Kot duftet keineswegs kultivierter, wenn ein Groß-Kritiker ihn in die Welt schleudert, im Gegenteil, er riecht penetrant und klebt auf Dauer fest - selbst an Meisterwerken. Der gefürchtete Musikkritiker Eduard Hanslick bemerkte zur Uraufführung eines späteren Klassik-Blockbusters: "Tschaikowskys Violinkonzert bringt uns zum ersten Mal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken hört." Das bleibt. Stinkende Noten, nicht abwaschbar.

Auch Anton Bruckner fürchtete Hanslick, und mit Richard Wagner verband den Kritiker eine lebenslange Feindschaft. Viele Musikfreunde hatten damals versucht, die wilden Wut-Wogen zu glätten und beide zu versöhnen, allein, der Dichter-Komponist verweigerte jede Friedensmission. Wahrscheinlich brauchte Wagner Hanslicks Abwehr und seine Kritik, um den Ring, Tristan oder Tannhäuser zu komponieren.

"Kritik stachelt an"

Rainald Götz hat in seinem Blogtagebuch "Klage" den klugen Gedanken formuliert, dass Lob schwäche. "Es installiert ein Gefälle, eine Nähe, eine Anmaßung. Lob erniedrigt die Welt des Gelobten, wie auch den Lobenden, Analyse und Argument erhöhen den geistigen Zustand, in dem sich alles befindet. Zustimmung schwächt, Kritik stachelt an, energiefiziert die Welt."

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Energie durch Kritik. Weitere Beweise für diese These wären Handkes Erzählung "Die Lehre der Sainte Victoire" oder Martín Walsers Roman "Tod eines Kritikers". In beiden Werken gilt die Verachtung der Schriftsteller jenem Kritiker, den Rolf Dieter Brinkmann mit einem Maschinengewehr niederschießen wollte und den Helmut Heißenbüttel mit einem Nachruf zu Lebzeiten abstrafte. Reden könne man nämlich nicht mit ihm. Marcel Reich-Ranicki war für Heißenbüttel ein Gestorbener, egal, wie lebendig und wirksam der auch intrigiere und kritisiere.

Der verbale Kampf mit Exkrementen

Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um aufzuzeigen, dass auch in vergangenen Zeiten Kritiker selten mit unterwürfigem Dackelblick zum Künstler aufschauten und Künstler eine prominente Missbilligung schwerlich verzeihen konnten.

Selbst der Kampf mit Exkrementen hat verbal eine lange Tradition. Goethe war so erbost über Friedrich Nicolais Werther-Parodie, dass er ihm in grobfein gestanzter Dichtkunst vorwarf, einen Stuhlgang aufs Werther-Grab gesetzt zu haben.

Der setzt' notdürftig sich aufs Grab
Und legte da sein Häuflein ab,
Beschaute freundlich seinen Dreck,
Ging wohl eratmet wieder weg
Und sprach zu sich bedächtiglich:
"Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben!
Hätt er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!" Goethe

Der Dichterfürst verarscht, Pardon, den scheißenden Kritiker.

Die Kunstkritik leidet unter der Zeitungskrise

Abseits aller Wehleidigkeiten eitler Sensibelchen in Kunst und Kritik stellen sich heute mit der Affäre um den kotschmierenden Ballettdirektor einige ernste Fragen: Sind die Künstler steuerlich subventionierter Häuser vielleicht besonders überheblich oder dünnhäutig geworden, weil die gesellschaftliche Bedeutung der Bühnenkunst, auch der Opern und der Konzerte, zu sinken droht?

Sehnen wir uns als Publikum nostalgisch nach den früheren Großkritikern wie Friedrich Luft, weil die damalige Theaterästhetik samt ihrer Kritik unsere Jugend begleitete, bevor die hurtige Verwurschtelung der Häppchenkultur im Social-Media-Gedöns längere Texte verdrängte?

Eines steht fest: Jede Kunstkritik, egal, ob sie Literatur, Theater, Oper, Ausstellungen oder Ballett beschreibt und bewertet, leidet unter der Zeitungskrise ausgesprochen heftig. Sorgfältige und kenntnisreiche Rezensionen weichen boulevardesken Ansprüchen in den Redaktionen. Wer liest auf Facebook aufmerksam einen Dreispalter über Medea? Stattdessen: "Schreib mal was über die Turnschuhe des Regisseurs."

Kulturradios leisten sich in einigen Formaten längere Gespräche mit Kritikerinnen und Rezensenten, aber hätte ein Friedrich Luft zur besten Sendezeit mit 15 Minuten Wort ohne O-Töne heute noch eine Chance? Zudem braucht Kritik auch eine Zeit der Vor- und Nachbereitung. Hintergrundgespräche mit Regisseuren, Kuratoren, Komponisten oder Autoren gehören meines Erachtens zu einer seriösen Auseinandersetzung mit dem Werk. Viele Kritiker lehnen sie ab, die Nähe könnte sie beeinflussen.

Die Kritik als Souvenir von einer langen Reise

Beim Probenbesuch vor einer Premiere in der Berliner Staatsoper bat die Pressesprecherin den Kritiker der "Süddeutschen Zeitung" und mich, anschließend ins Dirigentenzimmer zu kommen. Daniel Barenboim hatte darum gebeten, um sich zu bedanken: Viel zu selten erlebe er, dass Kritiker es auf sich nähmen, auch den Probenprozess ausschnittsweise zu begleiten.

Der Dialog zwischen Kritikern und Künstlern, so der Regisseur Roland Schwab, sei nötig und habe ihn oft befruchtet. Jede Regiearbeit wie zum Beispiel seine Inszenierung von "Tristan und Isolde" bei den Bayreuther Festspielen sei eine lange Reise, die Kritiken nähme er als Souvenir mit. Über respektvolle Berichte freue er sich, bei Verrissen reiche eine anstrengende Bergtour, um das innere Gleichgewicht wiederzufinden.

Auch Stephan Märki, Intendant in Cottbus und ebenfalls Regisseur, betont den Diskurs. Kunst und Kritik lebten voneinander und von der Einsicht des Gegenübers. Ihn mache traurig, wie oft schnelle Meinungen fundierte Argumente ersetzen. Dietmar Schwarz, Intendant des größten deutschen Opernhauses in Berlin, beobachtet seit Jahren, dass nicht nur die Gäste im Zuschauerraum immer älter werden, sondern auch die Gilde der Kritikerinnen und Kritiker. Verliert der Beruf das Glück der Berufung?

Keine Kunst ohne Kritik und keine Kritik ohne Kunst

"Dackelgate" hat die schwelende Debatte über das Verhältnis von Kunst und Kritik auf die Titelseiten gehoben. Ein bedeutender Aspekt geht zudem weit über die Kunstkritik hinaus: Die Verachtung für Kritiker, der Übergriff auf die Ballettkritikerin könnte nur eine Facette jener Entgrenzungen und Gewaltexzesse sein, über die Rettungsdienstler, Feuerwehrleute, Ärzte, Polizisten oder andere Vertreter öffentlicher Institutionen ebenfalls klagen. Ihr Beruf ist ungleich schwerer und härter als der eines Kunstkritikers, einer Kritikerin.

Es gilt also, sich ein wenig in Demut zu üben und dem argumentativen Miteinander mehr Raum zu verschaffen. Es gibt keine Kunst ohne Kritik und keine Kritik ohne Kunst. Die Autorin weiß darum und endet deshalb mit Friedrich Lufts Schilderung seines Berufsstands: "Er bewahrt die Künste vor dem Irrtum, vor der Mittelmäßigkeit oder gar vor dem Einschlafen. Und nicht nur die Künste hoffentlich: seine Nachbarn im Parkett und auf den Rängen der teuren Schauspielhäuser auch. So gesehen, kaum ein schöneres Amt in dieser Zeit."

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 25.02.2023 | 13:05 Uhr

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