60 Jahre "I Have a Dream": "Traum nicht in Erfüllung gegangen"
Vor 60 Jahren hat Martin Luther King vor dem Lincoln Memorial in Washington seine berühmt gewordene Rede "I Have a Dream" gehalten. Was ist aus dem Traum geworden? Ein Gespräch mit der USA-Korrespondentin Katrin Brand.
Frau Brand, wenn Sie heute auf die USA blicken: Was ist von dem Traum in Erfüllung gegangen und was nicht?
Katrin Brand: In der Rede von Martin Luther King ging es um Freiheit und um Jobs - deswegen sind damals so viele Leute nach Washington gekommen, um am Lincoln Memorial zu demonstrieren. Es ging um Teilhabe. Er hat den amerikanischen Traum formuliert, diesen Mythos, dass jeder, der in den USA hart genug arbeitet, erreichen kann, was er gerne möchte, dass jeder hier die beste Version seiner Persönlichkeit werden kann. Er hat in seiner Rede gesagt, dass die Afroamerikaner nicht Teil an diesem Traum hätten, dieser Traum sei ihnen verwehrt. Er hat ein paar Jahre später an die Adresse junger Leute noch gesagt: Ich verstehe, wenn ihr wütend seid. Dieser Traum ist inzwischen zu einem Albtraum geworden.
Wenn wir heute auf die Lebenssituation von Afroamerikanern in den USA gucken, stellt man fest, dass es weiterhin große Disparitäten gibt. Wir sehen, dass die Müttersterblichkeit bei schwarzen Frauen höher ist als bei weißen; die Chancen, Vermögen zu bilden, sind geringer; die Teilhabe an Führungsjobs in Wirtschaft oder im Sport ist weiterhin geringer. Die Lebensbedingungen von Afroamerikanern sind also schlechter als die von Weißen. Der Traum ist nicht in Erfüllung gegangen.
Hat die Rede heute dennoch eine Bedeutung in den USA, 60 Jahre später?
Brand: Es ist auf jeden Fall ein geflügeltes Wort geworden, zumindest die Passage, in der er davon träume, dass seine vier Kinder eines Tages in einer Gesellschaft leben, in der es nicht um die Farbe ihrer Haut, sondern um ihren Charakter geht. Es geht also darum, dass die Kinder die Chance haben, jenseits ihrer Hautfarbe es zu etwas zu bringen. Die ganze Rede werden die wenigsten Leute kennen.
Dieses "I Have a Dream" hat etwas fast Religiöses. Wird die Rede dadurch auch instrumentalisiert und der Rest ein bisschen weggedrückt?
Brand: Die Rede wird sehr gerne aus dem Zusammenhang gerissen. Seine Tochter Berenice King hat im Interview mit uns gesagt, das Werk werde auf ein paar Zeilen verkürzt. Die Amerikaner, sagt sie, bildeten sich einen bequemen Martin Luther King - er sei aber nicht bequem gewesen. Er habe radikale Sachen gesagt, die heute viele Leute sich unwohl fühlen lassen. Das sei der wahre Martin Luther King. Wir sehen hier sehr oft, dass sich vor allem die republikanischen und die konservativen Politiker auf diese Zeile mit der farbenblinden Gesellschaft konzentrieren und so tun, als ob dieser Traum Wirklichkeit geworden ist. Sie sagen, Martin Luther King hätte nicht gewollt, dass zum Beispiel junge Schwarze an der Uni bevorzugt werden, weil sie eine schwarze Hautfarbe haben. Bei den Linken sehe ich eher, dass andere Zitate genommen werden, um sie für eigene Geschichten zu benutzen - etwa zur Rechtfertigung von Gewalt: Er hat ja auch diesen Satz gesagt, dass Gewalt die Sprache der Ungehörten sei. Jeder sucht sich also den Martin Luther King aus, den er gerade gebrauchen kann.
Was ist aus "Black Lives Matter" geworden? Hat das das Potenzial, zu einer großen Bewegung zu werden, der sich viele anschließen können?
Brand: Die Black-Lives-Matter-Bewegung hatte ihren Höhepunkt nach der Ermordung von George Floyd. Das war im Pandemie-Jahr 2020, da ist diese Bewegung explodiert. Auch international konnte jeder mit dem Begriff etwas anfangen. Inzwischen ist es zersplittert und für viele weiße Amerikaner ist das eine Organisation, die sehr links ist, auch linksextremistisch. Sie sei möglicherweise auch von Kommunisten infiltriert. Die Afroamerikaner haben wenig Hoffnung, dass diese Bewegung irgendetwas bringt. Ja, sie hat die Wahrnehmung für das Thema Polizeigewalt gegen Schwarze verschärft, aber die umspannende Umarmung einer ganzen Gesellschaftsgruppe, die hat nicht geklappt.
Das Interview führte Mischa Kreiskott.