100 Jahre "Der Zauberberg": "Der wichtigste Roman meines Lebens"
Thomas Manns "Der Zauberberg" erschien vor 100 Jahren. Der Autor und Journalist Volker Weidermann ist Thomas-Mann-Experte. Er bezeichnet den "Zauberberg" als den wichtigsten Roman seines Lebens.
Erst vor kurzem hat der Schriftsteller Volker Weidermann den biografischen Roman "Mann vom Meer" über Thomas Mann veröffentlicht. Der "Zauberberg" sticht für ihn aus dem Werk des Literaturnobelpreisträgers heraus. Geplant als Novelle, als heiteres Gegenstück zum "Tod in Venedig", wurde "Der Zauberberg" einer der großen Romane der klassischen Moderne.
"Kein anderes Buch war in meinem Leben so wichtig wie 'Der Zauberberg'" - das hat Susan Sontag schon vor 20 Jahren gesagt. Gilt das auch für Ihr Leben, Herr Weidermann?
Volker Weidermann: Ist das nicht eine tolle Traditionslinie, in die ich mich da einschreiten kann? Ja, das gilt genau für mich. Das ist für mich der wichtigste Roman meines Lebens - den ich bestimmt zwei oder drei Mal gelesen habe. Ich freue mich schon auf das vierte Mal.
Thomas Mann selbst nannte seinen Roman ein "unförmiges Opus". Tatsächlich müssen wir Leser mehr als 1.000 Seiten bewältigen, und allein die Taschenbuchausgabe ist mehr als ein halbes Kilo schwer. Wann haben Sie den Zauberberg zum ersten Mal gelesen und fanden sie das damals anstrengend?
Weidermann: Wahnsinnig anstrengend. Und auch heute noch erlaube ich Menschen, denen ich zum "Zauberberg" rate, gleichzeitig immer mal wieder ein paar Seiten zu überspringen. Er ist fantastisch, aber mitunter auch etwas verplaudert. Es war am Anfang meines Studiums, und in meiner Ausgabe lag als Leitfaden ein Text von Walter Jens mit drin, der mir die erste Schritte in das Buch ermöglicht hat.
Obwohl dieses Buch nun 100-jähriges Jubiläum feiert, ist es nach wie vor hochaktuell. Es ist ein Roman über die "Zeitenwende" und auch den "Krisenmodus" - so hat es der Literaturwissenschaftler Hans Wißkirchen vor kurzem auch gesagt. Was macht das Buch aus Ihrer Sicht auch heute so lesenswert?
Weidermann: Das schönste Kapitel heißt "Die große Gereiztheit", und es geht um die Vorkriegswelt. Eine Burn-out-Gesellschaft, die sich auf diesen Berg rettet - und der kleinste Funken reicht, um eine Welt ins Explodieren zu bringen. Das Unglaubliche an diesem Buch ist, dass während Thomas Mann dieses Buch schrieb, er sich selbst gewandelt hat, von dem Dichter, dem die Demokratie, die Politik völlig egal gewesen ist, zu einem Mann, der sagte: Jetzt ist aber der Moment, grundsätzlich etwas zu ändern: mein Schreiben, aber auch mein Engagement.
Über ein paar Hürden beim Lesezugang haben wir schon gesprochen. Was macht für Sie das Lesevergnügen dieses Buches aus? Oder anders formuliert: Was bereitet Ihnen beim Lesen dieses Buchs besonderes Vergnügen?
Weidermann: Es ist ein von einer unglaublichen Sehnsucht getriebenes Buch, von einer großen Liebe zu den Figuren, die Mann schildert. Der Diskurs, der das letzte Jahrhundert prägte und zum Teil auch wiederkommt - Demokratie, Antidemokratie, Aufklärung und Romantik -, wird durchbuchstabiert, aber in lebendigen Charakteren. Ich kann mitleben, mitfiebern mit Ludovico Settembrini, mit Leo Naphta und vor allem mit der Figur des deutschen Helden Hans Castorp, in den ich einfach unglaublich verliebt bin.
Mit diesem Epochenroman hat Thomas Mann viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller inspiriert und geprägt. Warum hallt dieses Buch bis heute nach - und wird es vielleicht weiterhin?
Weidermann: In der Art und Weise, Zeitgeschichte in Lebensgeschichte zu verwandeln, hat Thomas Mann auch wirklich Schule gemacht. Das gibt es in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht oft. Aber tatsächlich gehört es dazu, dass 100 Jahre später sich viel Zeitgeschichte nicht wiederholt, aber doch zumindest spiegelt. Deshalb bin ich ganz sicher, dass wir aus dem Romangeschehen von damals viel für heute lernen können.
Es gibt eine Reihe von Bearbeitungen, und Heinz Strunk schreibt zurzeit am "Zauberberg 2". Welche Bearbeitungen halten Sie für gelungen und welche nicht?
Weidermann: Vor allem die Filme kann finde ich nicht so gut - da hat das dann plötzlich so etwas unglaublich Spießiges und der Zeit Enthobenes. Das ist dann doch das Schöne an Literatur, dass sie mit mir mitwächst und nichts Verstaubtes bekommt - für mich zumindest nicht. Im Gegensatz dazu sind Filmbilder oder Theaterinszenierungen so zeitverhaftet, dass ich sie gar nicht mehr anschauen mag. Die haben mit der Gegenwart nichts mehr zu tun. Und das Buch könnte fast auch heute geschrieben worden sein.
Sie haben in Ihrem Buch "Mann vom Meer" die besondere Beziehung des Schriftstellers Thomas Mann zum Meer herausgestellt. "Der Zauberberg" spielt in der Schweizer Bergwelt, in Davos. Wie sehr mochte Thomas Mann eigentlich die Berge, und wie stark war für ihn die Inspiration dieses Ortes?
Weidermann: Eigentlich waren die Berge natürlich gegen Thomas Mann errichtet worden, denn Berge erforderten Tätigkeit, Bürgerlichkeit, Aufstieg, Arbeit - und er war eben der Meeresträumer. Er fand aber die Schneelandschaft seiner Heimatlandschaften der Ostsee so unglaublich verwandt, und es ist ihm nicht schwer gefallen, sich dort heimisch zu fühlen.
Wir schauen dieser Tage auch nach Davos, wo der Weltwirtschaftsgipfel stattfindet. Sind Sie mal dort gewesen? Mich würde interessieren, ob man dort auch Thomas-Mann-Jünger trifft.
Weidermann: Ich bin ganz sicher, dass da so viele Thomas-Mann-Jünger sind, dass ich bislang davon abgesehen habe, mich unter sie zu mischen.
Das Interview führte Philipp Cavert.