"Empusion": Olga Tokarczuks feministischer "Zauberberg"-Roman
Olga Tokarczuk kombiniert in "Empusion" wieder einmal mystische Elemente mit historischer Realität. Der Roman der Literaturnobelpreisträgerin macht viele Anspielungen an Thomas Manns "Zauberberg".
Europa, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ein junger Mann macht sich auf in ein berühmtes Lungensanatorium in den Bergen.
"Mitte September - der Ankömmling bemerkt es mit Erstaunen - ist hier der Sommer längst vorbei. Die ersten welken Blätter liegen auf der Erde. Auch müssen die letzten Tage regnerisch gewesen sein, ein leichter Nebeldunst schmiegt sich noch an die Landschaft, nur die dunklen Linien der Bäche bleiben ausgespart. Der Reisende spürt in den Lungen, dass er in der Höhe ist, seinem von der Krankheit ausgezehrten Körper wird es guttun." Auszug aus "Empusion"
Wer hier an Thomas Manns berühmten Roman "Der Zauberberg" denkt, liegt nicht falsch. Auch stilistisch bedient sich Olga Tokarczuk immer wieder bewusst bei dieser literarischen Vorlage. Ihr Sanatorium liegt jedoch nicht in Davos, sondern in Görbersdorf, dem heutigen Sokolowsko, seinerzeit einer der bekanntesten Kurorte Europas, von dem sich die Davoser Ärzte - und auch Thomas Mann - inspirieren ließen.
Tokarczuk zeichnet misogyne Stimmung nach
Nach Görbersdorf verschlägt es Mieczyslaw Wojnicz, kränklich, zart, der hier im Sanatorium nicht zuletzt - so der Wunsch seiner Familie - endlich etwas männlicher werden soll.
"Ein jämmerliches, hilfloses Weinen würgte Wojnicz in der Kehle, das er vor dem Vater und dem Onkel zu verbergen gezwungen war. Sie hätten doch nur gesagt, er flenne wie ein Weib. […] Es ist doch ganz einfach, dachte er, während er seine Tränen herunterschluckte: Ein Mann zu sein heißt, zu lernen, alles zu ignorieren, was Probleme bereitet. Das ist das ganze Geheimnis." Auszug aus "Empusion"
So halten es auch die anderen, ausschließlich männlichen Gäste in diesem Sanatorium. Kuriose Charaktere mit Namen wie Longinus Lukas und August August, die leider Karikaturen bleiben und gern noch etwas schärfer gezeichnet sein könnten. Gemeinsam ergeht sich die Herrengesellschaft in klugen Reden, macht gebildete Spaziergänge und versichert sich regelmäßig, das stärkere, überlegene Geschlecht zu sein.
"Wir können die Tat einer Frau nicht als im vollen Bewusstsein vollzogenes Handeln betrachten. Die Psychologie der Frau hat bewiesen, dass die Frau zugleich Subjekt und Objekt ist, somit können auch ihre Entscheidungen nur bedingt als bewusst angesehen werden…" Auszug aus "Empusion"
Frauenfeindliche Kommentare sind historisch verbürgt
Tokarczuks Roman ist gespickt mit frauenfeindlichen Kommentaren. Jeder einzelne davon, so schreibt sie im Nachwort, ist historisch verbürgt - von männlichen Autoren der Weltliteratur.
"Sämtliche misogynen Ansichten in diesem Roman stellen Paraphrasen von Textpassagen folgender Autoren dar: Aurelius Augustinus, William S. Burroughs, Cato der Ältere, Bernhard von Cluny, Charles Darwin, Emile Durkheim, Henry Fielding, Sigmund Freud, H. Rider Haggard, Hesiod, Jack Kerouac, David Herbert Lawrence..." Auszug aus "Empusion"
In Tokarczuks Männerwelt dringen nach und nach Empusen ein: Dabei handelt es sich um weibliche Schreckgespenster, die der griechische Dramatiker Aristophanes in seinem Werk "Die Frösche" als "Fratzen mit Beinen aus Eselsmist" beschreibt, deren einziges Ziel es ist, die männlichen Helden vom rechten Wege abzubringen.
Tokarczuk mischt Realismus und Mystik
Zudem schwebt eine alte Legende aus der Zeit der Hexenverbrennung wie eine Drohung über dem Sanatorium. Die Art, wie Mieczyslaw langsam dieser Geschichte auf die Spur kommt, ist spannend erzählt und entschädigt für manche ausufernde Naturbeschreibung. In die anfangs realistisch erzählte Geschichte mischen sich immer stärker die für Tokarczuk typischen magischen und mythischen Elemente als Stimme der Weiblichkeit, die gegen die herrschende Gesellschaftsordnung aufbegehrt.
"Ich verneige mich tief vor all den anderen Frauen, allen Schriftstellerinnen, die mutig die Beschränkungen durchbrochen haben, die die Gesellschaft ihnen auferlegt haben", erinnerte Tokarczuk bei der Verleihung des Nobelpreises an diese Vorreiterinnen. Mit ihrer feministischen Version des Zauberbergs hat sie selbst ein weiteres Werk geschaffen, das zukünftigen Schriftstellerinnen ein starkes Vorbild sein kann, sich nicht von anderen begrenzen zu lassen.
Empusion
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Übersetzt von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein.
- Verlag:
- Kampa
- Bestellnummer:
- 978-3-311-10044-7
- Preis:
- 26,00 €