NDR Serie "Was war da los?": Im Anflug auf Hannovers Hauptbahnhof
Ein stromlinienförmiges Propeller-Gefährt passiert 1931 den Hauptbahnhof Hannover. Es erinnert an die futuristische Ästhetik von Fritz Langs "Metropolis" und erobert mit Rekordtempo die Massen. Doch schon bald verschwindet der Silberstreif am Horizont. Die NDR Serie "Was war da los?" erklärt's.
Der 9. Mai 1931 ist ein verregneter Samstag. Nicht viele Gründe also, vor die Tür zu treten. Doch quer durch Hannover rattert an diesem Vormittag eine Flugschraube, die einen eleganten mattsilbernen Zug auf den Gleisen vor sich hertreibt. Im Führerstand des futuristischen Gefährts: Ingenieur Franz Kruckenberg und seine Kollegen. Sie steuern ihren Flugbahn-Wagen gerade vom Reichsbahn-Ausbesserungswerk Leinhausen ins östlich der Stadt gelegene Lehrte. Dort planen sie am nächsten Morgen eine offizielle Schnellfahrt mit dem neuartigen Zug. Der Vizepräsident der Reichsbahndirektion Hannover und Reporter sollen sich bei dem Termin von den Qualitäten des Schienenzeppelins überzeugen können.
Testfahrt: Reichsbahn ändert Fahrpläne und sichert Strecke
Die Reichsbahn hat die 20 Kilometer lange Probefahrt auf einen Sonntag gelegt, um möglichst wenig reguläre Fahrten verschieben oder ausfallen lassen zu müssen. Zudem besetzt sie die 25 Schranken zwischen Lehrte und Plockhorst mit zusätzlichem Personal und lässt weitere Sicherheitskräfte aufstellen. Zunächst sind Kruckenberg und seine Kollegen Curt Stedefeld, Fritz Heyner und Willy Black vorsichtig und fahren den Zug mit nicht mehr als 170 Kilometer pro Stunde. Bei einer weiteren Fahrt am Nachmittag beschleunigen die Ingenieure auf Tempo 205. Bereits 1903 werden es Triebwagen auf bis zu 210 Kilometer pro Stunde bringen - allerdings mit 3.000 PS. Der Schienenzeppelin braucht dafür gerade mal einmal 500. Seit dem ersten Entwurf für das Fahrzeug, den Kruckenberg in einem Waldcafé am Rand des hannoverschen Stadtparks Eilenriede auf einen Briefumschlag skizziert hat, sind nicht einmal zwei Jahre vergangen.
Reichsbahn stellt Arbeiter, Ingenieure teilen ihr Wissen
Kruckenberg und sein Freund Curt Stedefeld sind nicht nur Ingenieure, sondern auch Unternehmer. 1928 haben sie die Flugbahn-Gesellschaft gegründet, um möglichst frei eigene Ideen umzusetzen. Auch die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) hofft, von den Erkenntnissen der beiden profitieren und letztlich ihre noch von Dampfloks geprägte Flotte moderner und wirtschaftlicher gestalten zu können. Dafür stellt sie der Flugbahn-Gesellschaft im Reichsbahn-Ausbesserungswerk eine Halle und Arbeiter zur Verfügung. Auf einem brachliegenden etwa acht Kilometer langen Schienenabschnitt nahe Hannover dürfen sie ihre Konstruktionen testen.
Beim Luftschiff abgeschaut: Skelett und Segeltuch
Für den Schienenzeppelin übernimmt Kruckenberg die Skelettbauweise des sogenannten Starrluftschiffs. An dem entsprechend aerodynamisch geformten Gerippe aus Stahlrohr arbeiten ab Anfang 1930 rund 30 Männer. Im August wird die Konstruktion auf die beiden Achsen montiert und ein BMW-Flugzeugmotor eingebaut. Zusätzlich bringen die Ingenieure an der Vorderachse einen Elektromotor an, um an Gleisen ohne Propeller rangieren zu können. Kurz darauf verbaut das Team die Propellerwelle und eine aus Eschenholz angefertigte Luftschraube. Währenddessen passt ein Blechnermeister an Fahrzeugspitze und -heck die Aluminiumverkleidung an. Der Korpus wird wie bei Luftschiffen mit imprägniertem und feuerfestem silbernen Segelleinen bespannt. Bis in den Oktober hinein machen die Konstrukteure Probefahrten mit dem 18 Tonnen leichten Zug.
Modernes Design im Inneren: Linoleum und Schwingstühle
In dem mit Holz verkleideten Innenraum planen die Ingenieure zunächst Sitzplätze für zwölf Reisende. Hinter dem Führerstand liegt das Gepäckabteil, dann kommt der Fahrgastraum. Dahinter wollen Kruckenberg und Co. später ein Raucherabteil mit weiteren zwölf Plätzen einrichten. Sie denken auch über andere Aufteilungen mit Bänken für mehr Personen nach. Die Innenausstattung soll modern und hochwertig sein - neben dunkelblauem Linoleumboden entscheiden sie sich für Schwingstühle aus Stahlrohr im Stil von Bauhaus-Designer Mart Stam.
Presse bejubelt Schienenzeppelin - Reichsbahn ist skeptisch
Im Oktober 1930 präsentiert die Flugbahn-Gesellschaft den Schienenzeppelin erstmals der Öffentlichkeit. Die rund 20 Reporter schreiben danach für ihre Zeitungen und Zeitschriften meist euphorische Artikel über das moderne Gefährt. Der Autor der Hauszeitschrift "Die Reichsbahn" ist da wesentlich nüchterner. Der Propellertriebwagen habe Potenzial, aber auch einen klaren Nachteil: Die Fahrpläne der Reichsbahn sind seinerzeit auf Fahrten mit 100 Kilometern pro Stunde ausgelegt - und ein wesentlich schnellerer Zug wie der Schienenzeppelin würde da nicht hineinpassen. Um ihn einsetzen zu können, müsste ein zusätzliches Streckennetz gebaut werden. Und dafür fehlt der Reichsbahn, die seit 1924 als staatliche Gesellschaft das Gros der Reparationszahlungen infolge des Ersten Weltkriegs abtragen soll, das Geld. Kruckenberg überzeugt Eisenbahn-Generaldirektor Julius Dorpmüller mit einer Idee für einen anderen Schnelltriebwagen, den sein Unternehmen bauen will - bittet Dorpmüller jedoch, den Schienenzeppelin einmal ausfahren zu dürfen. Der willigt ein.
Nur britische Lloyd versichert Schnellfahrt Hamburg-Berlin
Zwei Monate nach der ersten Schnellfahrt nahe Hannover dürfen die Ingenieure den Flugbahn-Wagen am 21. Juni 1931 zwischen Hamburg-Bergedorf und Berlin-Spandau zum Äußersten treiben. Allerdings erst, nachdem Kruckenberg mit Lloyds in London eine Versicherungsgesellschaft gefunden hat, die die Haftung für alle denkbaren Schäden übernimmt. Keine deutsche Versicherungsanstalt will das Risiko tragen. Die Sicherheitsvorkehrungen sind angesichts der langen Strecke noch aufwendiger als zuvor.
Tausende Schaulustige säumen Bahnhöfe und Strecke
Am Startbahnhof in Bergedorf stehen Hunderte Schaulustige, am Bahndamm zwischen Friedrichsruh bis hinter Schwarzenbek haben "viele Tausende gelagert, um den Krukenbergschen Propellerwagen in voller Fahrt an sich vorbeisausen zu sehen", schreibt die "Bergedorfer Zeitung". Einige haben sich schon am Abend dort versammelt. Der Schienenzeppelin startet um 3.27 Uhr. An Bord sind Kruckenberg und seine Frau Marie, Stedefeld, Black und zwei Monteure. Der Führerstand ist an diesem Tag doppelt besetzt: Willy Black bedient meist Gaspedal und Bremse, während ein zweiter Mann die Kilometerstände abliest, damit Black an Kurven die Geschwindigkeit anpassen kann - denn die sind eine Schwäche des Fahrzeugs. Um 5.09 Uhr fährt der Zug am Hauptbahnhof Spandau an den Bahnsteig. Dort wird die Besatzung empfangen und bejubelt.
Mit Tempo 230 durch Brandenburg - Weltrekord!
Der Flugbahn-Wagen legt die 257 Kilometer lange Strecke in 98 Minuten zurück - und bricht unterwegs den Geschwindigkeitsweltrekord für Schienenfahrzeuge. In Brandenburg erreicht er zwischen Karstädt und Dergenthin 230,2 Kilometer pro Stunde. 24 Jahre bleibt dieser Rekord ungebrochen.
Schienenzeppelin geht in Serie - bei Märklin und Bing
Nach der Rekordfahrt wird der Zug in Berlin öffentlich ausgestellt und geht anschließend auf Rundreise durch die Republik. Allein in Soest (Westfalen) kaufen an einem Tag rund 600 Menschen Bahnsteigkarten - offenbar, um den silbernen Propellerwagen zu sehen. Auch an anderen Bahnhöfen wie in Wuppertal, Düsseldorf und Seesen versammeln sich mitunter Hunderte, um einen Blick auf das Gefährt werfen zu können. Es wird so beliebt, dass der Schienenzeppelin doch bald in Serie geht - allerdings ganz klein: Märklin und Bing bringen ihn als Blechspielzeuge raus.
Propellerwagen scheitert an Skepsis der Reichsbahn
Trotz seiner Popularität und Fahrleistungen bleiben die konservativen Ingenieure der Reichsbahn skeptisch - es scheint ihnen unmöglich, den Schienenzeppelin mit seinen 200 Kilometern pro Stunde in einen Fahrplan zu integrieren. Gleichzeitig entwickeln Kruckenberg und Stedefeld einen zweigliedrigen Triebwagen weiter, der schon im Herbst 1930 das Interesse von Reichsbahn-Generaldirektor Dorpmüller geweckt hatte. Mit mehr Erfolg. Die Flugbahn-Gesellschaft verändert den Schienenzeppelin mehrfach, um etwa den kritisierten langen Bremsweg zu verkürzen. Doch er fällt immer wieder durch. Neben der Technik bemängeln die Reichsbahn-Beamten die fehlende Heizung, keine Toiletten und zu wenige Sitzplätze. 1934 kommt der Schienenzeppelin ins Depot. In einer Halle in Berlin-Tempelhof verrottet er zusehends. Aus Platzmangel wird das Unikat 1939 verschrottet.
So manches Blechmodell des Schienenzeppelins hat allerdings noch heute seine Bewunderer.