Stand: 23.02.2023 18:00 Uhr

1943: Stalingrad, Mordexzesse

von Hajo Funke, Politikwissenschaftler

Das Jahr 1943 ist durch die entscheidende Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad, eine apokalyptisch anmutende Radikalisierung im "totalen Krieg", die Forcierung der Ermordung der Juden und von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener sowie durch die absolute Zerstörung ("verbrannte Erde") im Osten gekennzeichnet.

Stalingrad

Mitte des Jahres 1942 hatte Hitler den folgenreichen Entschluss gefasst, Stalingrad und den Kaukasus zugleich erobern zu wollen. Dies erwies sich als entscheidender militärstrategischer Fehler. Hitler war nicht (mehr) in der Lage, dem Rat seiner Militärs zu folgen, schreibt Franz Halder, der Chef des Generalstabs des Heeres, in sein Tagebuch. Unter dem 23. Juli 1942 ist zu lesen:

"Nun, wo das Ergebnis mit Händen zu greifen ist, Tobsuchtsanfall mit schwersten Vorwürfen gegen die Führung. Die immer schon vorhandene Unterschätzung der feindlichen Möglichkeiten nimmt allmählich groteske Formen an und wird gefährlich. Es wird immer unerträglicher. Von ernster Arbeit kann nicht mehr die Rede sein. Krankhaftes Reagieren auf Augenblickseindrücke und völliger Mangel in der Beurteilung des Führungsapparates und seiner Möglichkeiten geben dieser sogenannten 'Führung' das Gepräge." (Zit. n. Nachama 2021: 262 f.)

Die Lage der deutschen Armeen an der Ostfront wurde immer prekärer. Denn die Armeen waren "in der Mitte und dem Süden weit auseinandergezogen, ihre Nachschublinien mittlerweile gefährlich überdehnt. Anstatt jedoch auf die Warnungen seiner Generäle zu hören, beharrte Hitler hartnäckig auf dem weiteren Vormarsch. Der (…) Umschwung kam plötzlich, im Laufe weniger Wochen. Am 23. Oktober 1942 griff die britische Armee bei El-Alamein an; innerhalb weniger Tage befand sich Rommel in vollem Rückzug. (…) Am 7. November landeten amerikanische und britische Truppen in Marokko und Algerien. (…) Am 11. November reagierten die Deutschen auf die Landung der Alliierten mit der Besetzung Vichy-Frankreichs." (Friedländer/Kenan 2010: 343 f.)

Vor allem aber hatte "die Schlacht um Stalingrad in den letzten Augusttagen nach verheerenden deutschen Bombenangriffen auf die Stadt begonnen, denen etwa 40.000 Zivilisten zum Opfer gefallen waren. Stalin hatte seinen brillantesten Strategen, Marschall Georgij Schukow, als Befehlshaber der Front von Stalingrad eingesetzt. Im Oktober hatte sich die Schlacht zu einem Häuserkampf entwickelt, der in den Gerippen von Gebäuden, den Ruinen von Fabriken und den Überresten von Getreidesilos geführt wurde. Und während Paulus verzweifelt versuchte, das Stadtzentrum einzunehmen und die Wolga zu erreichen, sammelten sich unbemerkt an beiden Flanken der 6. Armee sowjetische Divisionen. Am 19. November unternahm die Rote Armee einen Gegenangriff und kurz darauf zerschlug die sowjetische Zangenbewegung die deutsche Nachhut an ihrer schwächsten, von rumänischen Truppen besetzten Stelle. Paulus' Armee war abgeschnitten. Eine zweite sowjetische Offensive vernichtete einen Verband italienischer und ungarischer Einheiten: Die Einkreisung war komplett." (Ebd.)

So naheliegend eine skeptische Einschätzung der Lage der deutschen Armeen in und um Stalingrad war - Goebbels zeigt sich in seiner Notiz vom 8. Dezember 1942 voll ungetrübter Euphorie:

"Gestern: (…) An der ganzen Ostfront hat sich der deutsche Widerstand versteift. Die Bolschewisten machen keine nennenswerten Raumgewinne mehr. Sie haben sich zum Teil auf Angriffshandlungen von uns vorbereitet und schanzen sich ein. (…) Unsere Truppen sind nun fast ausnahmslos mit der als vorbildlich bezeichneten Winterkleidung ausgerüstet. Eine Katastrophe, wie sie im vorigen Winter vor der Türe stand, kommt für diesen Winter nicht mehr infrage." (Zit. n. Reuth, 5. Bd., 1992: 1845)

Friedländer/Kenan dagegen: "Hitler befahl zwar einen hastigen Rückzug vom Kaukasus, weigerte sich aber eisern, Stalingrad aufzugeben. (…) Ende des Jahres war die 6. Armee dem Untergang geweiht. Gleichwohl verwarf der NS- Führer immer noch Paulus' Bitte, ihm die Kapitulation zu gestatten: Soldaten und Befehlshaber hatten, so wurde dem frisch beförderten Feldmarschall erklärt, Widerstand bis zum letzten zu leisten und den Heldentod zu sterben. Am 2. Februar 1943 stellte die 6. Armee die Kämpfe ein. Sie hatte 200.000 Mann verloren; 90.000 Soldaten, darunter Paulus und seine Generäle, kamen in Gefangenschaft." (Friedländer/Kenan 2010: 344)

Die Fixierung Hitlers auf Stalingrad verdankte sich seiner inzwischen eingetretenen folgenschweren Realitätsferne; für den ihm nahestehenden Rüstungsminister Speer war Hitler ein Meister der Verdrängung, der sich immer häufiger aus der Wirklichkeit löste und in seine Fantasiewelt begab. (Speer 1969: 345) Die absehbare Niederlage in Stalingrad stilisierte Hitler zur überhöhten Schicksalsschlacht.

Niederlage und "totaler Krieg"

Ende Januar 1943 kapitulierte gegen den ausdrücklichen Befehl Hitlers der südliche Kessel von Stalingrad unter Generaloberst Paulus. (Friedländer 2006: 428 ff., 500 ff.; Kershaw 2000: 713 f., auch im Folgenden) Hitler hatte Paulus eine völlig destruktive Strategie befohlen, mit allen Mitteln Stalingrad einzunehmen und keinen Millimeter zurückzuweichen, und am Ende von Paulus den Kampf bis zum Letzten, bis zum eigenen Tod gefordert. Kurz nach der Niederlage von Stalingrad wies Hitler die Wehrmacht an, beim Rückzug "verbrannte Erde" zu hinterlassen, d. h. eine umfassende Zerstörung aller, auch ziviler Strukturen. Damit wurde zusammen mit der Rede Goebbels' im Sportpalast, in der dieser zum "totalen Krieg" aufrief, durch die NS-Spitze noch einmal eine unbeschreibliche Radikalisierung betrieben, in der zugleich die Vernichtung der in deutscher Gefangenschaft befindlichen sowjetischen Soldaten und die weitere Verfolgung der Juden umgesetzt wurde.

Am 18. Februar 1943, kurz nach dem militärischen Desaster der Wehrmacht in Stalingrad, entfesselte Goebbels im Berliner Sportpalast in seiner geradezu rauschhaften, antisemitisch verschärften Rede zum "totalen Krieg" die nächste paranoid-apokalyptische Welle des Judenhasses:

"Hinter den vorstürmenden (erregte Zwischenrufe), hinter den vorstürmenden Sowjetdivisionen sehen wir schon die jüdischen Liquidationskommandos, hinter diesen aber erhebt sich der Terror, das Gespenst des Millionenhungers und einer vollkommenen europäischen Anarchie. Hier erweist sich wiederum das internationale Judentum als das teuflische Ferment der Dekomposition, das eine geradezu zynische Genugtuung dabei empfindet, die Welt in ihre tiefste Unordnung zu stürzen und damit den Untergang jahrtausendealter Kulturen, an denen es niemals einen inneren Anteil hatte, herbeizuführen. Wir haben niemals Angst vor den Juden gehabt und haben sie heute weniger denn je! (Heilrufe, starker Beifall)." (Zit. n. Friedländer 2006: 501)

Der Beifall der gläubigen Anhängerschaft war keineswegs nur mit Angst vor den Folgen von Abweichung zu erklären. Immer noch hingen Millionen an den Lippen des Diktators und seines Propagandaministers. Dies zeigen die Berichte aus jener Zeit - bei allen Irritationen über die Niederlage in Stalingrad. Goebbels' Rede offenbarte die Leidenschaft von Wahnsinnigen, sorgfältig inszeniert vor einer riesigen, mit Bedacht ausgewählten Menschenmenge.

Wenige Tage vor Goebbels' Rede - am 12. Februar 1943 - besuchte Himmler Sobibor. Verantwortliche für den Massenmord trafen sich, u.a. Hauptakteure der "Aktion Reinhardt" wie Christian Wirth und Franz Stangl, denen eine Beförderung in Aussicht gestellt wurde.

Entfesselung des Holocaust: Bei Kujau findet sich im ganzen Jahr 1943 dazu nichts

Kujau spricht auch nach dem Mord an mehreren Millionen Juden 1943 lediglich von dem zu klärenden "Judenproblem" und in einer Weisung Hitlers an Himmler, sich um diese Probleme zu kümmern.

TB 23.6.1943: "Tägliche Lagebesprechung. Sorge macht mir unser Judenproblem. Nach den mir vorliegenden neuesten Meldungen will sie keiner haben. Horthy hat wieder abgelehnt! Gebe Himmler nochmals Weisung sich in erster Linie um dieses Problem zu kümmern. Adolf Hitler"

Die Ermordungsmaßnahmen erfolgten 1943 Schlag auf Schlag: Im März 1943 begann die Deportation von etwa 45.000 Juden aus Saloniki nach Auschwitz. Im April und Mai kam es zu dem verzweifelten Aufstand der jüdischen Bevölkerung im Warschauer Getto, der brutal niedergeschlagen wurde. Am 5. Juni wurden aus den Niederlanden 1.250 Kinder unter 16 Jahren deportiert und im KZ Sobibor vergast. Am 7. Juni erhielt Himmler die Ergebnisse von medizinischen Experimenten mit Menschen: Im KZ Ravensbrück wurden Frauen zur Untersuchung von Sterilisationsmethoden missbraucht. Am 21. Juni befahl Himmler die Auflösung aller jüdischen Gettos in Polen: Der Weg der Getto-Bewohner führte über die Vernichtungslager in den Tod. Am 7. August wurden in Hamburg im Zuge der "Euthanasie" über 500 Patientinnen und Patienten der Psychiatrie zur Ermordung deportiert. Am 1. Oktober wollten die deutschen Besatzungstruppen die über 8.000 in Dänemark lebenden Juden für die Deportation verhaften; die meisten konnten sich jedoch durch eine organisierte Flucht nach Schweden retten.

Trotz des tödlichen Terrors von SS und Wachmannschaften kam es in Treblinka am 2. August 1943 - nach der Ermordung Hunderttausender - zu einer Revolte der übrig gebliebenen Häftlinge, ebenso wie am 14. Oktober in Sobibor. Sie wurden brutal niedergeschlagen; wenige Hundert konnten fliehen. (Willenberg 2009; Blatt 2003)

Am 6. Oktober 1943 - wenige Wochen vor dem abrupten Ende der "Aktion Reinhardt" mit über 1,75 Million Ermordeten und während die Morde in Auschwitz in vollem Gang waren - formulierte Himmler in seiner berüchtigten Posener Rede vor den Reichs- und Gauleitern die der apokalyptischen Entwicklung zugrundeliegende Vorstellung. (Schon am 4. Oktober und auch nach dem 6. Oktober hielt er ähnliche Reden.) Himmler äußerte sich eindeutig - ein gewichtiges Argument gegen alle Formen von Revisionismus:

"Es trat an uns die Frage heran, wie ist es mit den Frauen und Kindern? Ich habe mich entschlossen, auch hier eine ganz klare Lösung zu finden. Ich hielt mich nämlich nicht für berechtigt, die Männer auszurotten - sprich also, umzubringen oder umbringen zu lassen - und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen. Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk (die Juden, Anm. d. Verf.) von der Erde verschwinden zu lassen." Goebbels schreibt in seinem Tagebuch-Eintrag vom 9. Oktober 1943: "(Himmler) tritt für die radikalste (…) Lösung ein, nämlich dafür, das Judentum mit Kind und Kegel auszurotten. ( …) Spätere Geschlechter werden sich sicherlich nicht mehr mit dem Mut und mit der Besessenheit (!) an dies Problem heranwagen, wie wir das heute noch tun können." (Beide Stellen zit. n. Friedländer 2006: 571 f.)

"Verbrannte Erde" im Rückzug - in (Weiß)Russland und in der Ukraine, Mord an über drei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener

Der Vormarsch der Wehrmacht im Osten in den Sommer- und Herbstmonaten 1941 hatte zu massiver Zerstörung insbesondere der Städte geführt. Innerhalb weniger Wochen waren der Wehrmacht in Weißrussland 700.000 Kriegsgefangene in die Hände gefallen, insgesamt während des Krieges mehrere Millionen. Die Wehrmacht organisierte ein furchtbares Massensterben unter den Kriegsgefangenen durch Aushungern. (Gerlach 1999: 12) Dem fielen allein in Weißrussland bis Anfang 1942 bis zu einer halben Million Männer zum Opfer; teils wurden sie auch erschossen. Auf dem Land bekämpften Wehrmacht, SS und Polizei gemeinsam die seit Frühjahr 1942 erstarkende Partisanenbewegung mit neuen Methoden: Sie kreisten deren Stützpunkte weiträumig ein und vernichteten in erster Linie die Dörfer in ihrem Vorfeld mit ebenfalls vermutlich Hunderttausenden von Opfern. 1943/44 überzogen sie mit verstärkten Kräften weite Teile Weißrusslands mit diesen Gewaltmethoden.

Als die Rote Armee im Spätsommer und Herbst 1943 den äußersten Osten Weißrusslands zurückeroberte, reagierte die Wehrmacht erneut mit Zwangsevakuierungen und Zerstörungen. Die letzten weißrussischen Jüdinnen und Juden wurden teils ermordet, teils deportiert. Im Sommer 1944 wurde das Gebiet Weißrusslands in besonderem Maße verwüstet.

Zugleich hatte das NS-Regime für die Besatzung eine Politik der städtischen Entvölkerung und des Hungersterbens konzipiert. Auch wenn diese Strategie nicht vollständig umgesetzt werden konnte, waren die sogenannten Waldgebiete Weißrusslands sowie Mittel-, Ost- und Nordrusslands abgeschriebene Gebiete, für die keine oder nur so wenige Ressourcen wie möglich aufgewandt werden sollten. Stattdessen sollten sie dazu benutzt werden, die Wehrmacht ernährungs-, ressourcen- und transportmäßig zu versorgen und zugleich die Versorgung der "Heimatfront" zu gewährleisten. Was von der Landwirtschaft blieb, sollte ausgebeutet, ihre Bewohner von der Versorgung mehr oder weniger ausgeschlossen werden. (Gerlach 1999: 231-400, 502). Diese Art der Ausbeutung war auch aus rassistisch-ideologischen Gründen beschlossen worden. Dies galt insbesondere für die sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem Gebiet Weißrusslands, für die man nichts anderes als ihre Vernichtung vorsah.

Zu Verbrechen eigener Art kam es in der Schlussphase des Krieges - zum einen beim brutalen Vorgehen bei der "Partisanenbekämpfung", bei der Schaffung sogenannter toter Zonen, der Zwangsarbeit, der Räumung zurückzulassender Städte und der Organisierung von Todesmärschen, in denen der Massenmord eingeplant war. (Ebd. 1094) Auch kam es zur Plünderung und Zerstörung der Städte beim Abrücken wie in Witebsk, Mogilew und Orscha.

Parallel schnellte die Zahl der Zwangsarbeiter in die Höhe, unter ihnen Millionen aus den besetzten Gebieten im Osten. Nach neueren Schätzungen hatten bis zu 26 Millionen Menschen Zwangsarbeit zu leisten, großenteils in bis zu 30.000 Lagern kaserniert. Im Juli 1944 - auf dem Höhepunkt der Rüstungsproduktion - stellten sie ein Viertel aller Arbeiter und Angestellten im Deutschen Reich. (Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit 2016: 28)

Nach Christian Streit (1997) kamen zwischen 1941 und 1945 etwa 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene um, vielfach durch geplantes Verhungern.

Bei Kujau findet sich dazu nichts.

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