Weit weg von der Stasi - und doch nicht sicher
"Riechen Sie mal!", sagt Karin Dmoch und zieht eine pinkfarbene Wildrose heran. "Dieser Duft erinnert mich immer an die Insel. An Borkum." Rosenduft und Freiheit - das gehörte für die 67-Jährige bislang immer zusammen. Bis jetzt. Denn heute, 60 Jahre später, weiß sie: Nach der Flucht ihrer Familie aus der DDR auf die Ostfriesische Insel war sie auch im äußersten Nordwesten der damals noch jungen Bundesrepublik, mitten in der Nordsee, nicht sicher vor der Stasi: "Die Freiheit, die wir hier haben wollten, wurde untergraben. Das finde ich ganz schlimm", sagt Dmoch.
Sie ist an den Ort zurückgekehrt, an dem sie im Alter von sieben Jahren mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester Zuflucht fand. Die Familie war nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR in den Westen geflohen. Ebenso wie die Familie von Karin Frey, die damals als 17-Jährige auf die Nordsee-Insel kam. Von Berlin nach Borkum, kurz bevor ihr Vater in der DDR verhaftet werden konnte. Auch sie hatte bis jetzt keine Ahnung von den Machenschaften der Staatssicherheit auf Borkum. Die Familie wähnte sich sicher vor der Stasi, so tief im Westen: "Dass es hier weitergeht, da hat man nicht mit gerechnet", sagt sie. "Man fühlte sich hier frei." Jetzt, im Nachhinein, sei sie schockiert.
In Freiheit und doch bespitzelt: Flüchtlingslager im Visier der Stasi
Was heute - auch auf Borkum - kaum jemand weiß: Von 1953 bis 1958 gab es auf der Urlaubsinsel ein Flüchtlingslager für sogenannte DDR-Republikflüchtlinge. Für Menschen, die meist aus politischen Gründen in den Westen gingen. Solche Unterkünfte gab es in West-Berlin und Hamburg, aber auch an der Nordseeküste: in Emden, Aurich oder eben auf Borkum. Dort wurde das Flüchtlingslager auf dem Gelände des ehemaligen Seefliegerhorstes eingerichtet. Ein Areal, mehr als 20 Hektar groß, das im Süden der Insel innerhalb von viereinhalb Jahren insgesamt 8.700 Menschen aufnahm. Warum es ausgerechnet hier ein solches Lager gab, lag wohl vor allem an der Infrastruktur des Geländes: große Backstein-Häuser, in denen viele Menschen untergebracht werden konnten, und ausreichend Platz für Kantine, Kino und eine Lagerschule. Doch selbst solche Orte der Zuflucht versuchte die Stasi zu unterwandern. Was heute bizarr klingt, war viele Jahre lang Realität: Spitzel im Dienst der sozialistischen Sache - in einem Flüchtlingslager mitten im Westen.
Selbst Kenner der Insel sind überrascht
Im Heimatmuseum auf Borkum wusste man davon bislang nichts. Volker Apfeld wuchtet einen der schweren Bände mit Ausgaben der Borkumer Zeitung auf den Tisch im Inselarchiv. In einem malerischen Häuschen am Alten Leuchtturm sammelt der ehrenamtliche Archivar Quellen zur Geschichte Borkums. Über das Flüchtlingslager gaben bislang vor allem Zeitungsartikel Auskunft. Konfrontiert mit Dokumenten aus der Stasi-Unterlagenbehörde, zeigt sich der Hobby-Historiker völlig überrascht: "Ich kann es kaum glauben! Was für einen Aufwand die Stasi da betrieben hat - unglaublich."
Ziel der Stasi: Propaganda für den Osten, Unruhe im Westen
Und der Aufwand muss tatsächlich riesig gewesen sein. Allein zum Lager auf Borkum gibt es Dutzende Quellen bei der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin: Spitzelberichte, Zeichnungen, Protokolle von Anwerbungsversuchen. Die Lager waren für die Staatssicherheit aus zwei Gründen interessant: Zum einen sollte in den Unterkünften Unruhe gestiftet werden, um möglichst viele Flüchtlinge zur Rückkehr in die DDR zu bewegen. Zum anderen sollten Informationen über vermeintliche Missstände in den Lagern der sozialistischen Propaganda dienen. Frei nach dem Motto: "Bei den Kapitalisten da drüben ist alles ganz schlimm, bleibt bloß hier!"
"Republikflüchtlingen den Aufenthalt unerträglich gestalten"
Die Stasi erstellte regelrechte Handlungsanweisungen, wie die Lager im Westen zu unterwandern seien. Im "Plan" der Abteilung VII/2 der Bezirksverwaltung Rostock heißt es: Wichtig sei die "Beschaffung und Sammlung von Informationen". In den Unterkünften solle eine "Atmosphäre der Unsicherheit und Verwirrung" erreicht werden: "Der Arbeitsablauf muss spürbar gelähmt und durcheinander gebracht werden, um den Republikflüchtlingen den Lageraufenthalt unerträglich zu gestalten."
Man müsse so vorgehen, denn es gebe eine "groß angelegte Verleumdungs- und Hetzkampagne gegen die Arbeiter- und Bauernmacht in der DDR". Der Gegner versuche, "Bürger der DDR abzuwerben und die Republikflüchtlinge politisch zu missbrauchen". In den Lagern ergebe sich deshalb die "dringende Notwendigkeit, ein qualitäts- und zahlenmäßig starkes Netz von Inoffiziellen Mitarbeitern zu schaffen".
Lügen im Dienst der DDR - Spitzel übertreiben in Berichten
Ein solcher Inoffizieller Mitarbeiter (IM) war zum Beispiel "Paul Berger". Er hatte die DDR zunächst verlassen, war dann zurückkehrt und ließ sich von der Stasi anwerben. Über das Flüchtlingslager auf Borkum verfasste er einen detaillierten Bericht, dem er sogar eine eigens angefertigte Zeichnung beifügte. Oder der Geheime Mitarbeiter (GM) "Günther": Er berichtete damals über einen ehemaligen Lagerleiter: "Trinkt gern! Verkehrt mit anderen Frauen, auch geschlechtlich." In ihren Berichten nahmen es die Spitzel mit der Wahrheit allerdings offenbar nicht immer ganz genau. So schreibt IM "Kaffeebohne", das Lager sei mit Stacheldraht umzäunt gewesen, Flüchtlinge seien zur Arbeit gezwungen worden und hätten für die Unterkunft Geld bezahlen müssen. Frey schüttelt heftig den Kopf, als sie das hört: "Das stimmt nicht. Woher sollten die Flüchtlinge denn das Geld nehmen? Die Stasi wollte wirklich Unruhe stiften. Schmutzig finde ich das." Und Dmoch fügt hinzu: "Und verunsichern wollten sie die Menschen auch, ob sie das Richtige getan hatten."
Ehemaliges Lager heute Europas größte Jugendherberge
Es ist ein schöner Spätsommertag, als die beiden Zeitzeuginnen über das riesige Gelände des ehemaligen Lagers schlendern. Kinder springen überall herum, denn mittlerweile befindet sich hier Europas größte Jugendherberge. Dmoch lebte damals mit ihrer Familie im "Haus Aurich", das heute schlicht "Haus Nr. 1" heißt. Einmal quer über den Platz, am anderen Ende des Geländes, befindet sich "Haus Leer", heute "Haus Nr. 6". Hier lebte Frey mit ihrer Familie. Sie erinnert sich durchaus an Konflikte im Flüchtlingslager. Sie berichtet von einer Schlägerei bei einer Tanzveranstaltung, bei der plötzlich Bierflaschen flogen und ein Mann mit einem Messer auf andere losging. Mittlerweile stellt sie sich die Frage, ob das möglicherweise "gesteuert" war. Herausfinden wird man es wohl nicht, denkbar scheint es allemal.
Braindrain vor dem Mauerbau
Roland Jahn, Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, sieht die Aktivitäten der Stasi damals im Zusammenhang mit der politischen Lage vor dem Mauerbau. Dass viele Menschen zu dieser Zeit noch verhältnismäßig einfach aus der DDR fliehen konnten, stellte den jungen Staat auf eine harte Probe. Einerseits sei das in Sachen Propaganda ein Problem gewesen, denn die DDR sollte ja der bessere deutsche Staat sein, so Jahn. Andererseits verlor der ostdeutsche Staat viele qualifizierte Menschen. Ein ökonomisches Problem: "Deswegen hat die DDR versucht, im Flüchtlingslager Einfluss zu nehmen, Leute zur Rückkehr zu bewegen und auch Propaganda-Politik zu machen, damit weniger Menschen das Land verlassen."
Propaganda-Schreiben gegen Massenflucht
So schreckte die Stasi auch vor Propaganda-Schreiben an DDR-Bürger nicht zurück, um diese vor dem vermeintlich schlimmen Schicksal im Westen zu "bewahren". Solche Schreiben lesen sich heute wie Satire: Da ist die Rede von einer "Notgemeinschaft Republikflüchtlinge", deren Mitglieder unter elenden Bedingungen im Westen lebten und am liebsten sofort in die DDR zurückkehren würden. Auch hier werden die Zustände in den Flüchtlingslagern in düstersten Farben ausgemalt: "Acht bis sechzehn Personen in Räumen von 20 Quadratmetern Fläche zusammengepfercht, mittags ein Schlag Suppe, 20 Gramm Margarine und Sonntags 50 Gramm Leberwurst. Und keine Aussicht, Arbeit und zu Wohnung kriegen. Manch eine Ehe zerbrach." Weiter heißt es: "Überall sieht man uns schief an, nennt uns Diebe, Strolche und Arbeitsscheue."
Eine Zeitzeugin blieb auf der Insel - die andere ging nach Schleswig-Holstein
Die Familien von Karin Dmoch und Karin Frey kehrten nicht in die DDR zurück; sie waren froh, den Weg in den Westen geschafft zu haben. Dmoch ging mit ihren Eltern zunächst nach Düsseldorf und später an die Ostsee nach Scharbeutz. Frey lernte als junge Frau auf der Insel ihre große Liebe und ihren späteren Ehemann kennen - und blieb. Im Flüchtlingslager selbst waren sich die Frauen nicht über den Weg gelaufen - erst jetzt haben sie sich kennengelernt, 60 Jahre später.