Direkt an der Quelle: Agentin im Innenministerium
Tatort Lavesallee 6 in Hannover - der Sitz des Niedersächsischen Innenministeriums. Dort, wo heute die Fahrer auf ihre Aufträge warten, werden zu Zeiten des Kalten Krieges die vertraulichsten Papiere verwahrt: in der Geheimregistratur. Nur wenige Menschen dürfen hier hinein. Zu ihnen gehört die Sekretärin Irene S.
"Hüterin der Verschlusssachen" trägt Dokumente ein und aus
Während andere Ministeriumsmitarbeiter klingeln müssen, per Kontrollmonitor überprüft werden und auch dann bestenfalls in den Vorraum gelangen, hat Irene S. ungehinderten Zugang zum Allerheiligsten. Und die zierliche Frau nutzt ihre Position. Über Jahrzehnte lässt sie der DDR streng vertrauliche Papiere zukommen. Die "Hüterin der Verschlusssachen" trägt die Dokumente ganz einfach eingerollt in einer großen Handtasche aus dem Ministerium. Daheim werden sie abfotografiert und am nächsten Tag wieder in den Panzerschrank zurück gelegt. Ausgerechnet Taschenkontrollen gibt es im Innenministerium in jenen Tagen nicht.
Sekretärin von drei Ministern - Stasi-Spitzel für 22 Jahre
"Das hat ihr niemand zugetraut - die Raffinesse, das durchzuhalten", erinnert sich heute im Gespräch mit dem NDR ihr früherer Kollege Manfred Scharf. Er arbeitet in der Personalabteilung, als Irene S. 1990 auffliegt und festgenommen wird. 22 Jahre lang ist sie für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) aktiv, zwischendurch ist sie die Sekretärin von drei Innenministern. Während die Minister kommen und gehen, bleibt sie die zuverlässige Agentin der Stasi im Ministerium.
Warum nur wollte sie nicht in den Ruhestand?
"Wir hatten ihr und anderen älteren Mitarbeiterinnen das Angebot gemacht, in den Ruhestand zu gehen. Sie hätte da sogar mehr Geld bekommen als mit der Tätigkeit im Ministerium", beschreibt Manfred Scharf die Situation Ende der 80er-Jahre. "Sie war die einzige, die das Angebot ausschlug. Im Nachhinein wurde mir klar, warum sie das nicht wollte."
Letzte Übergabe nach dem Mauerfall
Vermutlich verdient sie bei der Stasi in all den Jahren erheblich besser. Gemeinsam mit ihrem Mann bekommt sie vom MfS einen Agentenlohn von insgesamt fast 170.000 DM. Irene S. ist eifrig. Sogar noch, als sich die politischen Verhältnisse längst grundlegend geändert haben: Das letzte Treffen mit dem Verbindungsmann der Stasi findet noch nach dem Mauerfall 1989 statt. Da übergibt sie noch einmal Geheimmaterial. Im Dezember verabredet man sich erneut. Nach einem wie immer aufwendigen konspirativen Spießrutenlauf quer durch Hannover landet man am Maschsee. Das Gespräch dauert nur wenige Minuten: Die Zusammenarbeit ist beendet, alle Spuren sollen schnellstens verwischt werden, so der Instrukteur des MfS.
"Ziviler Alarmplan" landet in den Händen der DDR
Der größte Coup der Irene S.: Sie liefert der Stasi Kopien des streng geheimen "Zivilen Alarmplans". "Ein Dokument, das es nur ein Mal in Niedersachsen gab", erinnert sich Ex-Kollege Scharf. Es regelte, wie im Verteidigungsfall die Bevölkerung zu schützen ist und wie Staats- und Regierungsgewalt zu sichern sind.
Das Oberlandesgericht Celle (Aktenzeichen 3 StE 6/91-3) ist in seiner Bewertung eindeutig: Durch Irene S. hätte die DDR im Krisenfall die Bundesrepublik destabilisieren und für Eskalation sorgen können. Kontinuierlich gibt Irene S. nicht nur Organigramme und Namen heraus, sondern auch Unterlagen einer NATO-Übung - relevante Einblicke im Fall einer militärischen Auseinandersetzung der beiden deutschen Staaten: Wo würden sich Truppen bewegen? An welchen Orten gibt es Stellungen der Bundeswehr? - Wer das weiß, könnte Sabotageakte verüben. Und - so stellt es das Gericht später fest - aufgrund der Informationen hätte die Armee der DDR bis zu 200 Kilometer tief nach Niedersachsen eindringen können.
Fügsam, ängstlich, wenig durchsetzungsfähig?
Irene S. beteuert im späteren Gerichtsverfahren ihre Gewissensbisse. Sie habe die Stelle in der Geheimregistratur im Innenministerium nicht annehmen wollen, habe selbst erkannt, dass sie damit großen Verrat begehen werde. Immer wieder habe sie ihren Stasi-Verbindungsleuten bei Treffen in Athen und Österreich gesagt, aufhören zu wollen. Doch der Stasi sei es immer gelungen, sie bei der Stange zu halten. Ein von Kindheit an anpassungswilliger Mensch, übermäßig fügsam, ängstlich und wenig durchsetzungsfähig - so sieht ein Psychiater Irene S. im gerichtlichen Gutachten. Ihre Kollegen hatten sie als freundliche Frau wertgeschätzt.
Verhaftung zehn Tage vor der Rente - fünf Jahre Haft
Was in den 70er-Jahren bei Familienreisen in die DDR fast harmlos begann, endet mehr als zwei Jahrzehnte später im Landesverrat - und mit einem ungemütlichen Lebensabend. Am 30. Juni 1990 will Irene S. eigentlich in Rente gehen. Zehn Tage vorher wird sie verhaftet. Das Ministerium kündigt ihr fristlos. Sie und ihr Mann werden im Frühjahr 1994 vom 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle zu einer Freiheitsstrafe von jeweils fünf Jahren verurteilt. Die delikate Tatsache, dass das Innenministerium keine Taschenkontrollen durchführte, hilft ihr nicht weiter. Im Gegenteil: Gerade darin sieht das Gericht bestätigt, in welchem Ausmaß Irene S. das Vertrauen ausnutzte.