Schellfischtunnel Hamburg: Es fährt kein Zug nach irgendwo
Der Hamburger Hafen ist mit dem Bahnhof Altona mit einem Tunnel verbunden, der ab 1874 gebaut wurde. Seit 1993 ist der 961 Meter lange Bau stillgelegt. Für öffentliche Führungen wird der Lost Place extra geöffnet.
Gemessenen Schrittes bewegen sich die mit Taschenlampen ausgerüsteten Menschen durch die Dunkelheit. Lichtkegel huschen hin und her, flackern vom Boden auf die Wände. Auf den Boden muss geleuchtet werden, um auf dem unebenen Weg über Bahnschwellen und groben Schotter nicht zu stolpern. Auf die Wände richten die Besucher ihre Lichter, um zu erkennen, in welchem Bauabschnitt sie gerade umhertappen und um Besonderheiten zu entdecken.
Der Gang durch den ansonsten nur wenig beleuchteten Hamburger Schellfischtunnel ist ein Abenteuer. Das Bauwerk ist nicht frei zugänglich. Seit 1992 ist der Tunnel der ehemaligen Altonaer Hafenbahn nämlich - trotz einiger Ideen zur Wiederbelebung - verlassen und verriegelt, seit 1993 stillgelegt. Immerhin besteht inzwischen die Möglichkeit, ihn offiziell zu besichtigen. An festgelegten Terminen öffnet sich die hohe Eisenpforte unter dem Intercity-Hotel am Altonaer Bahnhof für Interessierte. Dies ist der Fall, wenn der Verein Hamburger Unterwelten Führungen anbietet. Erkundungen sind auch am Tag des offenen Denkmals möglich. Und ein Denkmal ist der 1876 fertiggestellte Tunnel ohne Zweifel, sowohl aus bautechnischer als auch aus wirtschaftsgeschichtlicher Sicht.
Wie kommt der Fisch am schnellsten vom Hafen zum Bahnhof?
Bei den Planungen für das Bauwerk gilt es, den Höhenunterschied von 28 Metern von der Elbe bis zum Bahnhof zu berücksichtigen. Zunächst ist der Tunnel - in der Hamburger Behördensprache "Bauwerk T33" genannt - lediglich 395 Meter lang. Der Grund: Der Altonaer Bahnhof liegt damals weiter südlich als heute, er befindet sich im Gebäude des heutigen Altonaer Rathauses. Die Idee hinter der unterirdischen Bahnverbindung ist, frische Waren aus dem Hafen so schnell wie möglich für den Weitertransport zum Altonaer Bahnhof zu bringen. Früher sei Altona "der größte Fisch-Anlandeplatz Europas" gewesen, sagt Holger Dierks vom Verein Hamburger Unterwelten der "taz" 2022.
Über eine Schienenrampe, die "geneigte Ebene", haben zuvor jahrelang Seilwinden die beladenen Wagen das steile Ufer hochgezogen, ehe Pferde die Karren weiter Richtung Bahnhof brachten. Dieses Verfahren erweist sich nach der Hafenerweiterung und aufgrund erhöhten Warenaufkommens als zu ineffizient. Ein Tunnel, der im Volksmund später wegen des hauptsächlich beförderten Produkts den Namen Schellfischtunnel erhält, ist die Alternative, wie die Sozial- und Wirtschaftshistorikerin Christine Lindner die Historie erläutert.
Verlängerung von 395 auf 961 Meter
1895 zieht der Bahnhof Altona an seinen heutigen Standort um und der Tunnel wird verlängert - auf 961 Meter. Wenn man sich die technischen Möglichkeiten dieser Zeit vor Augen hält, sind solche Arbeiten besonders beeindruckend. Ines Hinrichs vom Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer, sagt dem NDR im Dezember 2022: "Der Tunnel ist etwas Besonderes. Ganz hinten sieht man auch noch rudimentäre Steine in der Tunnelsohle." Holger Dierks pflichtet ihr bei: "Es ist einfach ein tolles Bauwerk." Der gelernte Historiker sieht in dem Tunnel "das beste Beispiel für norddeutsche Geschichte".
Gleise seit den 1990er-Jahren unterbrochen
Eine geführte Tour beginnt in dem "neuen", nördlichen Teil, der im Zuge der Bauarbeiten für das InterCity-Hotel in den 1990er-Jahren mit einer neuen Betonauskleidung versehen wurde. Allerdings hat man die beim Bau unterbrochenen Schienen nicht wieder hergestellt. Sie beginnen seither unvermittelt direkt hinter dem Zugangstor.
Oben im Tunnelgewölbe sind vereinzelt Abluftrohre zu sehen. "Wenn hier mit Dampfloks gefahren wurde, hat zwar der Durchzug durch den Tunnel ein bisschen von dem Qualm weggenommen, aber das war viel zu wenig", erklärt Holger Dierks. "Also musste man überall Löcher schaffen, durch die der Qualm abzog, damit die Lokführer und die Bahnarbeiter hier nicht in der Gesundheit gefährdet wurden." Völlig qualmfrei wird der Tunnel allerdings nicht.
Loks mit verschiedenem Antrieb: Dampf, Elektro, Diesel
Das ändert sich ab 1913: Statt der Dampf- kommen nun Elektro-Lokomotiven zum Einsatz, die über Einphasen-Wechselstrom an Oberleitungen betrieben werden. 1932 wird der Strom auf die höhere Fahrdrahtspannung der S-Bahn umgestellt. 1954 stellt die S-Bahn von Wechsel- auf Gleichstrombetrieb um. In der Folge wird die Altonaer Hafenbahn gar nicht mehr elektrisch betrieben - aus "Angst vor 'falschem' Strom", wie Christian Hinrichs, Vorstandsvorsitzender der Hamburger Unterwelten, während einer Führung im Oktober 2023 berichtet. Deshalb werden ab 1956 wieder Dampflokomotiven eingesetzt. Dann kommen Dieselloks zum Einsatz, die bis 1992 die Strecke befahren.
21 Nischen bieten Arbeitern Schutz
Um eine andere Gefährdung der im Tunnel Beschäftigten zu minimieren, hat man seitlich in den Tunnel sogenannte Fluchtnischen gebaut, wie Ines Hinrichs berichtet. Weil ein Zug fast den kompletten Tunnel ausgefüllt habe, können sich Arbeiter damals in diesen Nischen in Sicherheit bringen - so lange, bis der Zug vorbeigefahren ist. 21 solcher Nischen in unregelmäßigen Abständen existieren insgesamt, erzählt Christian Hinrichs. Und zwar alle auf der östlichen Seite, damit die Arbeiter nicht unnötig suchen mussten. Eine Nische existiert auf der anderen Seite. Dort ist zwischenzeitlich ein Transformator für den E-Betrieb aufgestellt gewesen.
S-Bahn wird unter dem Schellfischtunnel gebaut
Ungefähr in der Mitte beginnt ein anhaltendes Grummeln, das zunächst irritiert. Nähert es sich? Oder entfernt es sich? Beides. Kommt es von oben oder kommt es von unten? Von unten. Es handelt sich um S-Bahnen, die unterhalb der Güterbahnstrecke verkehren. In den 1970er-Jahren ist der Tunnel geöffnet worden. In offener Bauweise wird die S-Bahn-Trasse damals unter dem Hafenbahngleis verlegt. Man habe von oben auf die Züge schauen können und darunter auf die Baustelle der S-Bahn, so Dierks. "Das war faszinierend." Die Folgen sind heute nicht nur hörbar, sondern auch zu sehen: Die Röhre dort ist aus Beton neu gebaut worden und nicht mehr wie ursprünglich aus Backstein - und auch eckig, nicht mehr gewölbt.
Das Grün am Ende des Tunnels
Danach geht es deutlich steiler hinunter. In einer langen Rechtskurve winden sich die Gleise Richtung Hafen. Bahnschwellen mit Einkerbungen zeugen von starker Beanspruchung. Aber diese Spuren sind nicht entstanden, weil ab und an Bahnen entgleist sind, wie Christian Hinrichs erklärt. Vielmehr stammen sie von den Kupplungen der Waggons, die manchmal nicht wie vorgesehen hochgebunden worden sind. Sie schleiften dann über die Eichenschwellen und sorgten so für die Kerben.
Eine Führung bis zum Südausgang dauert eine gute Stunde. Dann sieht man das Licht oder vielmehr das Grün am Ende des Tunnels. Während das große, schwere Gittertor selbst relativ frei von Bewuchs ist, ist der nachfolgende alte Gleisbereich nahezu komplett zugewachsen. Büsche und sogar kleine Bäume haben sich am Tunnelende ihren Lebensraum geschaffen.
Dieses YouTube-Video zeigt einen Filmbeitrag zum Schellfischtunnel - Einfahrt bis Ankunft am Kai - von 1984 (100 Jahre Bundesbahndirektion Hamburg).
Nutzung des Bauwerks wird unrentabel
In Spitzenzeiten sind laut Christian Hinrichs bis zu 200.000 Tonnen Fisch pro Jahr auf Güterwaggons durch den Tunnel gegangen. Nachdem das Transportvolumen der Hafenbahn immer mehr zurückgeht, wird der unterirdische Güterverkehr 1989 eingestellt. Zuletzt gibt die Ölfirma Protank ihren Standort am Hafen auf. Die Nutzung des Tunnels wird unrentabel, zumal immer mehr Waren per Lkw transportiert werden. Anschließend werden nur noch unregelmäßig Fahrten unternommen, wie etwa anlässlich des Hafengeburtstags. Am 30. September 1992 werden beide Tunnelöffnungen mit Stahltoren verschlossen. 1993 wird das Bauwerk endgültig stillgelegt.
Seitdem kann die Natur dort ungehindert wuchern. Die Backsteinfassade mit dem eingemauerten Reichsbahn-Zeichen sieht noch recht makellos aus. Von ihrer Existenz ahnt kaum ein vorbeifahrender Radler oder Fußgänger, der nebenan die Straße nach Neumühlen hinuntergeht. Zumal man wirklich sehr genau hinschauen muss. Am besten im Winter, wenn kaum noch Grün vorhanden ist.
Absurd: Neuer Bahnsteig an stillgelegter Strecke
Versuche, den Tunnel für den Nahverkehr wiederzubeleben, sind in der Vergangenheit allesamt gescheitert. Zunächst wird an Spurbusse gedacht, die den schnellen Weg von Altona zum Hafen nutzen sollten. Dann kommt die Idee wasserstoffbetriebener Busse auf. Der Investor des im Jahr 2000 am Südende des Tunnels errichteten "elbberg campus" ist begeistert von der Idee - und lässt hinter seinem Gebäude eigens einen Bahnsteig neu errichten. Der ist allerdings nie genutzt worden.
Die Idee einer Velo-Route durch den Tunnel stößt ebenfalls schnell auf Probleme. Bei einem Unfall könnten Rettungskräfte nicht schnell genug zur Hilfe eilen, erklärt Christian Hinrichs. Notausstiege gibt es nicht.
Ende 2006 kommt ein Gutachten der TU Harburg zu dem Schluss, dass öffentlicher Nahverkehr im Schellfischtunnel nicht ökonomisch betrieben werden könne, was vor allem mit dem schlechten baulichen Zustand des Tunnels begründet wird. Daher bleibt der Bahnsteig weiter ein Kuriosum einer seit etlichen Jahren stillgelegten Bahnstrecke.
Partyvolk und Sprayer illegal im Schellfischtunnel
Wie Christian Hinrichs berichtet, ist der Tunneleingang vor etlichen Jahren mal aufgebrochen worden. Zunächst unbemerkt. Offenbar Jugendliche schleppen Tische, Stühle, sogar Sofas in den Tunnel, um mit Alkohol und Zigaretten Partys zu feiern - unterstützt von einer großen Musikanlage. Nachdem dieser illegale Treffpunkt auffliegt, hätten vier Mitarbeiter der Stadtreinigung drei Tage gebraucht, um den Tunnel wieder freizuräumen.
Der Tunnel ist seitdem verriegelt und verrammelt. Einige Sprayer haben es in der Vergangenheit jedoch immer mal wieder geschafft, die schweren Gitter zu überwinden, wie einige Werke an den Wänden belegen. Die großen Tore wurden bereits verstärkt und werden weiter gesichert. Auch aus Brandschutzgründen finden regelmäßig Kontrollen statt.
Lost Place: Seit 2022 gibt es öffentliche Führungen
Aber: Die Öffentlichkeit soll nicht länger ausgeschlossen sein und den Tunnel besichtigen können.
"Der Schellfischtunnel ist ein prägendes und geschichtsträchtiges Industriedenkmal im Herzen unserer Stadt, das bei vielen Hamburgern auf großes Interesse stößt. Eine verkehrliche Nutzung ist nicht in Sicht, umso mehr möchten wir dem Wunsch der Öffentlichkeit nachkommen, die Tore zum Schellfischtunnel wieder für Führungen zu öffnen." Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) am 23.11.2021 im "Hamburger Abendblatt"
Seit 2022 bietet der Verein Hamburger Unterwelten solche Führungen an. Dann kann sich jeder Interessierte mit einer Taschenlampe ausgestattet ein erhellendes Bild dieses geheimnisvollen Ortes machen.