Als ein Sandsturm zur Katastrophe wurde
Es ist ein Unglück, das im kollektiven Gedächtnis bleibt: Eine riesige Sandwolke nimmt Autofahrern auf der A19 bei Kavelstorf unweit von Rostock im April 2011 die Sicht. 85 Fahrzeuge kollidieren, acht Menschen sterben.
An diesem Freitagmittag, dem 8. April 2011, setzt auf der zweispurigen A 19 zwischen Berlin und Rostock allmählich der Wochenendverkehr ein. Bei Kavelstorf nahe der Anschlussstelle Rostock-Laage führt die Fahrbahn hinunter in eine Senke. Plötzlich ist sie da: Eine dichte Sandwolke nimmt den Autofahrern die Sicht. Als "gelbes Handtuch" oder "eine Decke, die sich auf die Frontscheibe legt", beschreiben Beteiligte das Geschehen im Nachhinein. Die Sicht beträgt nur noch zehn Meter. In beiden Fahrtrichtungen prallen insgesamt 85 Fahrzeuge teils mehrmals auf- und ineinander und verkeilen sich.
Explosionen im Gefahrguttransporter - Acht Menschen verbrennen
Viele Unfallbeteiligte sind in ihren Fahrzeugen eingeklemmt, als Feuer ausbricht. 17 Autos und drei Lkw geraten in Brand, darunter ein Gefahrguttransporter mit leicht entzündlichem Wasserstoffperoxid im Tank. Hier kommt es immer wieder zu Explosionen, die den Einsatz der Feuerwehr massiv behindern. "Es waren wie Granateinschläge", erinnert sich Notarzt Dr. Burkhard Hinz. "Man fühlte sich wie in einen Krieg versetzt." Allein das Löschen des Brandes dauert mehrere Stunden. Erst dann können die Rettungskräfte zu den eingeschlossenen Personen vordringen - für acht von ihnen kommt jede Hilfe zu spät. Sie sind in ihren Fahrzeugen verbrannt.
Rettungseinsatz im Sandsturm - 250 Helfer an der A19
Als die ersten Einsatzkräfte per Hubschrauber eintreffen, behindert immer noch Sand die Sicht und erschwert die Rettungsarbeiten. Rund 250 Helfer von Feuerwehr, Rettungskräften und Polizei sind im Einsatz - unter chaotischen Umständen. "Es gab viel Geschrei von Verletzten. Ich musste mich zwingen, das Unfallgeschehen zu sehen und nicht einem nächstgelegenen Patienten zu helfen", so Hinz, der sich als erster Notarzt vor Ort einen Überblick verschaffen sollte. "Dieses Ereignis war das schlimmste, was ich in meinem Leben erfahren habe." Mit bis zu 100 Stundenkilometern peitscht der Wind Sand und Ackerboden von den umliegenden Feldern auf, die nach wochenlanger Dürre völlig ausgetrocknet sind. Zwei Tankwagen bespritzen die Felder mit Wasser, um die Sicht zu verbessern. Dennoch dauert der Sandsturm mehrere Stunden an.
Millionenschaden auf der A19
Zahlreiche Rettungswagen und sechs Rettungshubschrauber bringen die 130 Verletzten in Krankenhäuser nach Rostock, Güstrow und Bad Doberan. Während die A 19 in Richtung Berlin bis zum Abend geräumt ist, dauern die Aufräumarbeiten auf der Gegenseite drei Tage. Das THW leuchtet den Unfallort aus, damit die Aufräumarbeiten nachts fortgeführt werden können. Der Brand hat den Asphalt stark beschädigt, so dass die Fahrbahn großflächig ausgebessert werden muss. Die folgenschwere Karambolage hat einen Schaden in Millionenhöhe hinterlassen. Ein vorübergehendes Tempolimit wird nach wenigen Tagen wieder aufgehoben.
Sandsturm löst umweltpolitische Debatte aus
Bei der Aufarbeitung der Massenkarambolage geht es zum einen darum, ob und wie solche Sandstürme künftig verhindert werden können. Die Unglücksstelle liegt in einer Senke, flankiert von großen Agrarflächen. Der am Unfalltag vorherrschende starke Wind hatte die obere Bodenschicht aufgewirbelt und sie quer über die Autobahn geweht. Umweltschutzorganisationen wie der BUND bemängeln in der Folge das Fehlen von Feldhecken, die den Sand zumindest etwas hätten aufhalten können. Zudem habe die Agrarindustrie den Humusgehalt im Boden zu stark sinken lassen. Dadurch trockne dieser stärker aus.
Politiker fordern nach der Katastrophe Veränderungen in der Landwirtschaft. Stimmen werden laut, die den Landwirten eine Mitschuld geben. Die damalige Bundesagrarministerin Ilse Aigner (CSU) mahnt etwa an, die Vorgaben für erosionsgefährdete Flächen einzuhalten. Die Debatte über die Risiken landwirtschaftlicher Monokulturen bleibt jedoch weitgehend ohne Folgen. Die Staatsanwaltschaft beschließt, nicht gegen die Landwirte zu ermitteln. Was bleibt, sind Warnungen im Radio vor Sandstürmen.
Juristische Aufarbeitung: Gibt es Schuldige?
Die Naturgewalt Sandsturm ist zwar der Auslöser für die Katastrophe. Doch inwieweit tragen die Unfallbeteiligten selbst Schuld am Ausmaß der Katastrophe? Aus welcher Sicht war die Sandwolke sichtbar? Hätten die Beteiligten reagieren und schneller bremsen können?
Rekonstruktion des Unfallhergangs
Nach Jahren kriminaltechnischer und juristischer Ermittlungen gelingt es Experten der Prüfgesellschaft Dekra, den Unfallhergang im Detail zu rekonstruieren. Mittels modernster Simulations-Software glaubt die Staatsanwaltschaft, Schuldige ausmachen zu können. Auf Antrag der Behörde werden Mitte 2014 insgesamt sieben Strafbefehle erlassen: in vier Fällen wegen fahrlässiger Tötung, in zwei Fällen wegen Gefährdung des Straßenverkehrs und in einem Fall wegen fahrlässiger Körperverletzung.
Alle Strafbefehle beziehen sich auf das Unfallgeschehen in Fahrtrichtung Rostock, wo es zu deutlich größeren Schäden gekommen ist als in der Gegenrichtung. Die Staatsanwaltschaft geht aufgrund von Zeugenaussagen und den Ergebnissen von Gutachtern davon aus, dass die Sandwolke bereits aus etwa 650 Metern zu sehen war und die Angeklagten sich nicht an das Sichtfahrtgebot gehalten haben.
Opfer oder Täter? Prozess wegen fahrlässiger Tötung
Kirsten Ettmeier aus Brandenburg gehört zu den Unfallbeteiligten, die einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung erhalten und erhebt Einspruch - es kommt zum Prozess. Für das NDR Doku-Talkformat Die Narbe hat Ettmeier sehr offen über den Unfall und ihre Sichtweise der Schuldfrage gesprochen. Sie selbst wurde bei dem Unfall schwer verletzt. Als sie aus ihrem Auto ausstieg, wurde sie von einem Lkw erfasst. Sie erlitt multiple Knochenbrüche an Armen, Becken und Beinen und befindet sich bis heute in physiotherapeutischer Behandlung. Ettmeier selbst sieht sich als Opfer des Unfallgeschehens - und trägt gleichzeitig schwer an der Tatsache, dass in Folge ihres Handelns zwei Menschen gestorben sind. Doch ist sie dadurch schuldig?
"Ich kann mich nur an diese Wand erinnern"
Laut Unfall-Rekonstruktion war Ettmeier mit 78 bis 94 Stundenkilometern auf das vor ihr fahrende Fahrzeug aufgefahren, löste damit eine Kettenreaktion aus und trägt laut Gericht somit eine Teilschuld am Tod eines Ehepaares, das später in seinem Auto verbrannte. Ettmeier gibt entgegen anderer Zeugenaussagen an, die Sandwolke sei unmittelbar vor ihrem Auto erschienen: "Ich kann mich nur an diese Wand erinnern, die plötzlich da war. Als wenn eine Decke über die Frontscheibe geschmissen wird." Sie habe deswegen nicht eher bremsen können. "Man kann für eine Naturkatastrophe nicht eine Person haftbar machen", findet sie.
Das Amtsgericht Rostock sieht das anders. Anhand der Unfall-Rekonstruktion und Zeugenaussagen kommt es zu dem Schluss, dass Kirsten Ettmeier "am Anfang einer Kausalkette" stand. Das Gericht wertet Ettmeiers eigene Verletzungen als mildernde Umstände und verurteilt die damals 54-Jährige im Juli 2015 zu einer Geldstrafe von 9.000 Euro auf Bewährung. Ettmeier selbst blickt weiterhin mit zwiespältigen Gefühlen auf ihre Rolle: "Ich habe nach wie vor nicht das Gefühl, am Tod von zwei Menschen mit Schuld zu haben", sagt sie, leidet aber stark unter den psychischen Folgen des Unfalls: "Ich komme damit selbst nicht klar, dass Menschen gestorben sind." Kann ein Opfer auch Täter sein? "Man kann sowohl Opfer als auch Täter sein", meint Richter Ralf Schröder. "Und man kann durchaus auch mehr Opfer als Täter sein."
Lkw-Fahrer zu Geldstrafe verurteilt
In einem weiteren Prozess wird im September 2015 ein Lkw-Fahrer wegen fahrlässiger Tötung eines Autofahrers zu einer Geldstrafe von 3.600 Euro verurteilt. Durch das Auffahren auf einen anderen Lkw habe er den Tod eines Autofahrers mit verursacht, so auch hier die Begründung.
An der Unfallstelle erinnert heute ein Holzkreuz an die Verstorbenen. Ein Tempolimit oder Hecken als Schutz vor Sandstürmen gibt es nicht.