Das Kriegsende in Greifswald und Anklam
"Die Russen kommen" - so hört man es Anfang 1945 in vielen deutschen Städten angstvoll raunen. Tatsächlich rückt die Front immer näher: Am 12. Januar 1945 beginnt an der Weichsel die sowjetische Großoffensive. Das deutsche Heer, durch zahlreiche Niederlagen geschwächt, kann sich nur noch zurückziehen. Am 25. April überwinden die sowjetischen Truppen die Oder.
Konspirative Treffen in Greifswald
Zu diesem Zeitpunkt schmieden in Greifswald Mitglieder der Stadtverwaltung und der Universität schon seit Langem Pläne, wie die Stadt kampflos übergeben und vor der Zerstörung bewahrt werden kann. Zu ihnen gehört der Universitätsdirektor Carl Engel. Jahrelang war er überzeugtes NSDAP-Mitglied - bis zur Schlacht um Stalingrad, der Hunderte Greifswalder Soldaten zum Opfer fielen. Damals kippte die Stimmung in der Stadt, bildeten sich erste oppositionelle Kreise. Initiiert durch den Berliner Kommunisten Hugo Pfeiffer, entstand in Greifswald eine Zelle des "Nationalkomitees Freies Deutschland".
Das von Exilkommunisten und Kriegsgefangenen in der Sowjetunion gegründete Komitee strebt einen raschen Friedensschluss an. Über weltanschauliche Grenzen hinweg - Kommunisten, Sozialdemokraten und Bürgerliche, darunter der Oberjustizrat Hans Lachmund, schließen sich zusammen - konspiriert diese Zelle in Greifswald gegen die NSDAP. "Eine organisierte Oppositionsarbeit war natürlich nicht möglich. Man blieb diskret und traf sich beispielsweise zu Spaziergängen oder zum Herrentee", erinnert sich Christine Fritze aus Greifswald, deren Schwiegervater dem Kreis angehörte.
Werben um den Kampfkommandanten
Die wichtigste Aufgabe der Oppositionellen: Den Greifswalder Kampfkommandanten Rudolf Petershagen zu gewinnen, der die alleinige militärische Befehlsgewalt hat. Der allerdings untersteht dem Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht, deren Parole lautet: "Alle Städte müssen bis zum Äußersten gehalten und verteidigt werden. Kampfkommandanten, die diesem Befehl nicht Folge leisten, sowie alle zivilen Amtspersonen, die ihn davon abspenstig zu machen versuchen oder ihn behindern, werden zum Tode verurteilt."
Am 27. April fasst sich Carl Engel ein Herz: Er stattet Rudolf Petershagen einen Besuch ab und weist ihn vorsichtig darauf hin, dass ein Gefecht in der Stadt das Leben der Menschen, insbesondere der zahllosen Verwundeten, gefährde und die alten Kulturwerte der Universität zerstören könne. Rudolf Petershagen antwortet ausweichend. Hätte er sich strikt an den Wehrmachtsbefehl gehalten, hätte er Carl Engel auf der Stelle erschießen müssen. Doch was dieser nicht weiß: Der Kampfkommandant steht auf seiner Seite. Insgeheim gehört auch er längst zum Greifswalder Netzwerk.
Die letzten Kriegstage in Anklam
Anklam steht in den letzten Kriegstagen kopf. Immer mehr Flüchtlinge und Verwundete strömen in die Stadt, erinnert sich der Einwohner Peter Koepke: "Und dieses eigenartige Gerolle, das Getrappel der Pferde, das war ein unheimliches Geräusch. Aber viel unheimlicher wurde es, als dieses Geräusch plötzlich abbrach. Was war geschehen? Es kamen keine Flüchtlinge mehr. Die Russen hatten die Odergrenze erreicht." Am Morgen des 28. April ist in Anklam der Gefechtslärm aus dem nahe gelegenen Ducherow zu hören. Die Ankunft der Roten Armee ist nur noch eine Frage von Stunden.
Beinahe wäre Anklam gerettet worden. Zwei Arbeiter, Max Grosch und Karl Bröker, besteigen am 28. April in der Nacht den Turm der Nicolaikirche - bewaffnet mit einem weißen Bettlaken, einer Akkulampe und einer Pistole. Die beiden gehören zu einem Widerstandszirkel, über den heute wenig bekannt ist. Sie hissen die weiße Fahne. Viele Bürger atmen auf. Doch in der Stadt befinden sich noch einige Wehrmachtssoldaten. Als es hell wird, entdecken sie das wehende Laken und entfernen es, ehe sie selbst aus der Stadt türmen.
Die Hoffnung schwindet
Mit der weißen Fahne schwindet an jenem Morgen der letzte Hoffnungsschimmer der Anklamer Bevölkerung. Immer mehr Frauen und Kinder drängen auf die überfüllten Straßen, um in den umliegenden Dörfern und Wäldern Schutz zu suchen. Auch die Kreisleitung der NSDAP macht sich aus dem Staub. Nur die 15- und 16-jährigen Jungen werden gezwungen, vor Ort zu bleiben, um die Stadt zu verteidigen. Der NSDAP-Kreisleiter fährt an ihnen vorbei und verabschiedet sich mit dem Gruß: "Heil Hitler! Nun verteidigt ihr Anklam gut!" Ein paar eilig geschaufelte Panzergräben, ein paar verschreckte Jugendliche mit Knüppeln und Spaten - so soll Anklam den Russen trotzen.
Am Morgen des 29. April beginnt der Angriff der Roten Armee. Peter Koepke ist mit seiner Familie in ein benachbartes Dorf geflohen. Gemeinsam mit seiner Mutter steigt er auf einen Hügel, um die Kämpfe zu beobachten. Er erinnert sich: "Wir sahen in der Richtung, wo Anklam lag, plötzlich weißen Dampf aufsteigen, der sich nachher wandelte in eine riesige schwarze Rauchwolke über Anklam und dann am Abend den ganzen Himmel rot erhellte. Wir sahen aber auch, dass von überall her deutsche Soldaten ziellos flüchteten. Es war ein völliges Durcheinander, von Verteidigung nichts zu sehen."
Handeln in höchster Eile
Während die schöne mittelalterliche Stadt Anklam in Schutt und Asche versinkt, läuft die Greifswalder Lokaldiplomatie zur Hochform auf. Carl Engel, der Leiter der örtlichen Kliniken Professor Gerhardt Katsch sowie Oberst Wurmbach sollen als Parlamentäre der Roten Armee entgegenfahren und die Bedingungen für die Kapitulation aushandeln. Ohne genauen Plan müssen sie in höchster Eile improvisieren. Die Kapitulationsvorschläge werden mit Bleistift auf einen Zettel gekritzelt, irgendwer organisiert ein weißes Bettlaken. Die sowjetischen Truppen befinden sich schon im Anmarsch.
Der gefürchtete Kreisleiter der NSDAP und sein Stab sind unterdessen geflohen. Der linientreue Oberbürgermeister Rickels, Träger des Goldenen Parteiabzeichens, fährt mit dem Wagen der Greifswalder Feuerwehr und lässt die Stadt ohne Feuerschutz. In Greifswald herrscht für einen Tag Anarchie: Menschen hasten durch die Stadt, überall gibt es Plünderungen. Das Chaos schützt die Parlamentäre vor Entdeckung. Mitten in der Nacht fahren sie los.
Blutig roter Feuerschein
Carl Engel notiert in sein Tagebuch: "Halb rechts vor uns glühte der Nachthimmel in blutig rotem Feuerschein. Als wir den Hang zum Peene-Urstromtal hinabfuhren, sahen wir, dass es die in hellen Flammen stehende Stadt Anklam war. Ich habe sowohl im vergangenen wie in diesem Krieg viel Schauriges und grausige Zerstörungen gesehen, aber nichts, was dem Inferno, der feurigen Hölle von Anklam vergleichbar wäre." Er und seine Mitstreiter riskieren auf dieser Fahrt ihr Leben. Das Bettlaken, das als weiße Fahne dient, müssen sie verstecken, um nicht zur Zielscheibe für deutsche Soldaten zu werden. Und für die russische Armee sind sie erst einmal Feinde. Schließlich gelingt es ihnen, sich einer Gruppe sowjetischer Soldaten zu offenbaren. Man geleitet sie in die brennende Stadt.
General Borstschew nimmt das Kapitulationsangebot der Greifswalder Parlamentäre an. Man einigt sich auf drei Bedingungen: 1. Es darf nicht geschossen werden. 2. Es darf nichts gesprengt werden. 3. Es darf nicht geplündert werden. Es gelingt, den neuen Befehl per Funk rechtzeitig an die Heeresgruppen herauszugeben. Greifswald wird kampflos übergeben, es fällt kein einziger Schuss. Anklam dagegen brennt nieder.