Stand: 28.02.2018 15:44 Uhr

Reimarus: Vater der modernen Theologie

Wie man heute die Bibel versteht, die moderne Bibelwissenschaft und Theologie, geht im Prinzip auf einen Mann aus Hamburg zurück: Herrmann Samuel Reimarus. Er starb am 1. März 1768 - also vor 250 Jahren. Der Name Reimarus ist mit der Aufklärung verbunden und prägte ein spannendes Kapitel norddeutscher Geistesgeschichte.

Der Philosoph und Theologe Hermann Samuel Reimarus im Porträt.
Hermann Samuel Reimarus wurde 1694 in Hamburg geboren und war Gymnasialprofessor für orientalische Sprachen.

Reimarus liest die Bibel ganz genau und findet im Wortlaut Widersprüche und Ungereimtheiten. Der Gelehrte nimmt als Orientalist die Geschichte vom Exodus aus Ägypten auseinander. Er wendet sich dann auch dem Neuen Testament zu und ist davon überzeugt, das mit der Auferstehung Jesu könne nicht stimmen. "Er glaubte, dass die Jünger den Leichnam Jesu aus dem Grab gestohlen haben und anschließend das Märchen von der Auferstehung erfunden haben, um ihr Leben als Apostel der Jesus-Bewegung auf Kosten der Gläubigen weiterführen zu können", erklärt Jörg Herrmann, der Direktor der Evangelischen Akademie der Nordkirche. "Das war eine wahnsinnige Provokation - Götteslästerung pur für damalige Verhältnisse." Reimarus schreibt das alles auf - aber nur im Geheimen.

Jan Philipp Reemtsma: Hamburg war dogmatisch

Der Literatur- und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma © dpa-Bildfunk Foto: Bodo Dretzke
"Hamburg war eine sehr klerikale Stadt", sagt Publizist Jan Philipp Reemtsma.

"Dieses 1.600-Seiten-Buch, an dem er 30 Jahre gearbeitet hat, hat er nicht zu veröffentlichen gewagt, weil er berechtigte Sorge hatte, seine bürgerliche Existenz zu verlieren", sagt Herrmann. Die Texte sind zu heiß für Hamburg. Die Stadt sei damals noch eine homogene Stadtrepublik gewesen, erläutert der Publizist Jan Philipp Reemtsma, der sich intensiv mit dem Thema beschäftigt hat. "Man muss sich da keine Illusionen machen: Hamburg war ein sehr dogmatisches Gemeinwesen", so Reemtsma. "Die lutherische Orthodoxie war tonangebend. In Hamburg durften nur lutherische Gottesdienste stattfinden - keine katholischen oder calvinistischen - es war eine sehr klerikale Stadt, muss man sagen."

Aufklärung als konspirative Angelegenheit

Fortschrittliche Geister treffen sich in Hinterzimmern. Der Geist der Aufklärung ist zu dieser Zeit noch eine konspirative Angelegenheit, erläutert Jürgen Lüthje vom Vorstand der Patriotischen Gesellschaft in Hamburg. "Die Aufklärung damals war keine herrschende Meinung. Sie war auch nicht gerade populär in der Stadt", sagt Lüthje. "Es gab ganz damals eine ganz klare orthodoxe kirchliche Position, die Abweichungen nicht akzeptierte und auch rechtlich verfolgte."

Lessing veröffentlicht Auszüge aus Reimarus' Schriften

An einer Säule in der Hamburger Rathausdiele ist ein Relief von Gotthold Ephraim Lessing zu sehen. © NDR Foto: Jonas Hirschfeld
Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing veröffentlichte Auszüge aus den Schriften Reimarus' - als Fragmente eines anonymen Autors.

Nachdem Reimarus gestorben ist, übergibt seine Familie die bibelkritischen Schriften an den Dichter Gotthold Ephraim Lessing, der sie in Auszügen veröffentlicht - als Fragmente eines anonymen Autors. Der Hauptpastor an St. Katharinen, Johann Melchior Goeze, einer der Wortführer der lutherischen Orthodoxie, liest die Texte und hat sofort erhöhten Puls. "Er sagt, es sei Blasphemie, dass man die Apostel als Lügner, Betrüger und Leichenräuber bezeichne", erklärt Jan Philipp Reemtsma. "Und die Aufregung ist verständlich."

Die Aufklärung ist nicht aufzuhalten

Lessing und Goeze liefern sich über Monate eine scharfe Auseinandersetzung, die als Fragmenten-Streit in die Geschichte eingehen wird. Zwischenzeitlich wird dabei Lessing verboten, Texte über Religion zu veröffentlichen. "Lessing hat dann für sich die Konsequenz gezogen und sich wieder dem Theater gewidmet. Und er schrieb sein letztes großes Werk, das Drama 'Nathan der Weise'", erklärt Jörg Herrmann von der Evangelischen Akademie. Im Fragmentenstreit hat sich Hauptpastor Goeze noch durchgesetzt. Aber die Aufklärung ist nicht mehr aufzuhalten. Zwanzig Jahre später schreibt Christoph Martin Wieland einen Roman, der die Auferstehung ebenfalls als Gründungsmythos einer Religion einordnet, berichtet Jan-Philipp Reemtsma: "Dieser Roman hat keinen Hund hinter dem Ofen vorgelockt - das zu schreiben, war 20 Jahre später problemlos möglich."

"Reimarus hat sich seines Verstandes bedient"

Herrmann Samuel Reimarus wird so zu einem entscheidenden Impulsgeber für die Aufklärung. "Reimarus war für ein vernünftiges Christentum, eine positive Synthese von Aufklärung und Religion", sagt Jörg Herrmann. "Er ist nicht nur eine Lichtgestalt, es gibt auch einige antijudaistische Passagen, aber er hat - wie Kant es so schön sagte - ohne Leitung eines anderen sich seines Verstandes bei der Betrachtung biblischer Texte bedient."

Erster historischer Bibel-Kritiker

Patriotische Gesellschaft © dpa-Bildfunk
Der Reimarus-Saal im Gebäude der Patriotischen Gesellschaft.

Reimarus ist einer der Väter der modernen Theologie, die die Bibel nicht als Geschichtsbuch sondern als Glaubensbuch sieht. "Fast alle Bücher, in denen es um historisch-kritische Forschung und Jesus-Forschung geht, beginnen mit Reimarus", erläutert Jörg Herrmann. "Reimarus war der Erste, der historisch kritisch an die Bibel herangegangen ist. Der Erste, der sich vom Dogma der Verbalinspiration unabhängig gemacht und die biblischen Texte genau und mit kritischen Verstand unter die Lupe genommen hat."

Mitbegründer der Patriotischen Gesellschaft

In der Patriotischen Gesellschaft trägt ein Saal seinen Namen. Genau genommen den seines Sohnes - beide haben die Patriotische Gesellschaft damals mitbegründet. Der Name Reimarus habe bis heute einen machtvollen Klang, sagt Jürgen Lüthje von der Patriotischen Gesellschaft. "Für uns steht er für die Werte, für die wir gegenwärtig noch immer eintreten", so Lüthje. "Für Bürgerengagement, für aufgeklärtes Denken, für das unabhängige und freie Gebrauchen der Vernunft, für Toleranz und für das friedliche Zusammenleben in der Stadt."

Weitere Informationen
Ein Stich des Gebäudes der "Patriotischen Gesellschaft von 1765" © Patriotische Gesellschaft von 1765

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Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | Kulturjournal | 28.02.2018 | 19:00 Uhr

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