Helga Rode: "Alles zurückzulassen - ein furchtbares Gefühl"
Die gebürtige Berlinerin Helga Rode muss im Zweiten Weltkrieg aus Ostpreußen fliehen. In Hamburg baut sie sich mit ihrem Mann eine neue Existenz auf. Bis heute lebt die 100-Jährige in der Hansestadt. Ein Jahrhundertleben.
Helga Rode wird am 10. Februar 1923 in Berlin geboren. Als sie fünf Jahre ist, stirbt ihr Vater Richard - ein Assistenzarzt an der Berliner Charité - aufgrund von Gallensteinen. Er stammt aus einer Königsberger Ärztefamilie. Mit ihrer Mutter Erna, die Unterricht an einer Kunstakademie gibt, zieht sie daraufhin zu den Großeltern. Die Eltern der Mutter haben einen Fuhrbetrieb mit Pferden. Zusammen leben sie in Königsberg in einer Straße hinter dem Hauptbahnhof. Dort nehmen sie Kolonialwaren wie Zucker oder Mehl von der Bahn in Empfang und fahren die Lebensmittel direkt in die vielen kleinen Läden.
In der Straße leben viele Arbeiterfamilien, Helgas Großmutter leiht den Arbeitern regelmäßig Geld, damit sie über die Runden kommen. Auch versorge sie ärmere Menschen mit Mahlzeiten zu Hause, als die Weltwirtschaftskrise über Deutschland hereinbricht.
Ferien auf dem Land verbracht
Ihre Ferien verbringt Helga Rode auf dem Land, erinnert sich noch heute an viel Essen und großzügige Mahlzeiten, sobald Besuch kam. Allerdings ist sie immer das einzige Kind, sie hat keine Cousinen oder Cousins in ähnlichem Alter.
Von der Fliegerei fasziniert
Einer Freundin der Mutter gehört das Flughafenrestaurant in Königsberg, bei ihr kommt Helga in Kontakt mit der Fliegerei. Viele Piloten werden in den 1920er- und 1930er-Jahren ausgebildet. Sie übernehmen Postflüge zwischen Berlin und Königsberg. Außerdem lernt Helga Piloten kennen, die nach Ende des Ersten Weltkriegs keine Arbeit mehr finden und mit ihren Kriegsmaschinen tollkühne Schauflüge veranstalten. Sie ist noch kein Schulkind, als die das erste Mal in einer offenen Maschine mitfliegen darf, mit Erlaubnis der Mutter. Die Fliegerei fasziniert sie bis heute, sie träumt davon, nochmal in einem Cockpit zu sitzen.
Künftiger Ehemann wird zum Kriegsdienst eingezogen
Durch die politische Lage rät ihre Mutter ihr 1939 das Gymnasium zu verlassen und ihren Mittelschulabschluss zu machen. Gleichzeitig beginnt der Krieg.
Auf einem Fest lernt sie Horst, ihren zukünftigen Ehemann, kennen. Bei Kriegsausbruch wird er eingezogen, ist in Griechenland, dann in Italien stationiert. 1942 heiraten sie während des Heimaturlaubs und sehen sich erst 1946 wieder.
Arbeit im Parkhotel Königsberg
Im letzten Kriegsjahr wird Helga ins Königsberger Parkhotel abkommandiert, das dem Gauleiter Erich Koch gehört, damals einem der mächtigsten Männer Osteuropas. Das Restaurant ist begehrt, viele Führerpersönlichkeiten steigen im Parkhotel ab, um sich zu entspannen.
Als die Front näher rückt, bucht Helgas Mutter einen Flug nach Berlin für sich und ihre Tochter, um Königsberg zu verlassen. Doch in diesem Moment sind schon die russischen Aufklärer über der Stadt. Der Flug findet nicht mehr statt.
Flucht aus Königsberg mit Speck, Brot und Zigaretten
Am 28. Januar 1945 beginnt ihre Flucht aus Königsberg, im Rucksack: Dokumente, Speck, Brot und jede Menge Zigaretten, die ihnen noch manchen Vorteil auf der Flucht verschaffen sollen. "Den Schlüssel rumdrehen und alles zurücklassen - ein furchtbares Gefühl", es verfolgt sie bis heute.
Sie kommen auf einem Lastkahn für Kohle unter und fahren zum Marinehafen Pillau an der Ostsee. Von dort steigen sie um auf den Eisbrecher "Stettin" und in Gotenhafen dann auf ein Walfangschiff. Bei 28 Grad unter null fahren sie hinter der "Wilhelm Gustloff" her. Vor Stettin hält ihr Schiff plötzlich an, an Bord breitet sich eine schreckliche Stimmung aus. Später erfahren sie, dass direkt vor ihnen die "Wilhelm Gustloff" gesunken ist. Schätzungen gehen von 4.000 bis 9.000 Toten aus.
1946: Plötzlich steht ihr Mann vor Helga Rode
Helga und ihre Mutter kommen als Flüchtlinge nach Eckernförde und über viele Umwege nach Winsen an der Luhe. Dort steht 1946 plötzlich wie aus dem Nichts ihr Mann vor ihr. Sie bauen sich ein gemeinsames Leben auf. "Tauschhandel war alles", sagt Helga Rode und "ein Fahrrad der ganz große Luxus". 1947 kommt Sohn Clemens, 1949 Tochter Astrid zur Welt. Anfang der 1950er-Jahre ziehen sie an die Hamburger Elbchaussee, "allerdings auf die Margarine-Seite", wie sie betont. Ihren Kindern habe sie immer mitgegeben, dass man bei Menschen "niemals Unterschiede machen sollte, denn die waren hier sehr groß".
Trotz Anfangsschwierigkeiten fassen sie Fuß in Hamburg. Ihre Kinder machen dort Abitur, Clemens später Karriere im Auswärtigen Amt. Astrid studiert Theaterwissenschaften und lebt seit vielen Jahrzehnten in London. Sie und ihre Mutter telefonieren "jeden Tag und wenn wir nicht so weit voneinander entfernt leben würden, hätten wir nicht dieses tolle Verhältnis, das wir haben", sagt Astrid.
Leben an der Elbe
Helgas Mann Horst stirbt mit 60 Jahren an den Folgen der Malaria, die er aus der Kriegsgefangenschaft mitgebracht hat. Helga Rode verkauft das Haus und bleibt der Elbchaussee treu. Sie zieht in eine Seniorenresidenz, einige Hundert Meter weiter, wieder an der Elbe.
Sie bekommt noch zwei Heiratsanträge, will aber lieber allein bleiben. "Ich hatte genug damit zu tun, meine Familie auf der ganzen Welt zu besuchen, da blieb keine Zeit für einen Mann", erklärt sie.
Große Ruhelosigkeit in sich
Zurückblickend sagt sie, dass "das Leben mich immer geschoben hat, und dabei war sehr viel Glück dabei". Was sie am meisten geprägt habe, sei die Flucht gewesen. Bis heute trägt sie eine große Ruhelosigkeit in sich. Sie möchte nirgends warten, trifft Entscheidungen blitzschnell. "Sonst wäre sie damals nicht auf das Schiff gekommen, damals ging es um Leben und Tod", sagt ihre Tochter Astrid.