Biografie: Ein neuer Blick auf Hitler
Im Mai wird an das Kriegsende vor 75 Jahren erinnert. Brendan Simms, Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge, hat pünktlich zu diesem Datum seine Biografie über Adolf Hitler nun auch auf Deutsch vorgelegt: "Hitler. Eine globale Biographie". Ein Interview mit dem Autor über neue Blickwinkel auf den Diktator.
Herr Simms, Sie beschreiben Adolf Hitler als einen Mann, der sich einschüchtern ließ, der sich "der industriellen Stärke des britischen Empires und der Vereinigten Staaten bewusst" war. Im Mittelpunkt standen dabei aber Menschen, die abwanderten - das war seine strategische Sorge. Mögen Sie das erklären?
Brendan Simms: Das war für ihn eigentlich eine Migrationsgeschichte. Das Aha-Erlebnis für Hitler fand im Juli 1918 statt, als die Amerikaner und die Briten am Ende des Ersten Weltkrieges in Frankreich vorrückten. Er nahm zwei Amerikaner gefangen und behauptete später, diese Amerikaner seien deutscher Abstammung gewesen. Das war für ihn der Anlass, darüber nachzudenken, wie und warum so viele Millionen von Deutschen im 19. Jahrhundert nach Amerika und in das britische Weltreich ausgewandert waren. Und als sie im Ersten Weltkrieg als feindliche Soldaten zurückkamen, war das für ihn ein Trauma.
Sie sagen, Hitlers Hauptaugenmerk hätte nicht nur der Sowjetunion und dem Bolschewismus gegolten, sondern Anglo-Amerika. Hitler hätte das britische Empire und die USA im Blick gehabt. Hat die Geschichtswissenschaft, haben Historiker bei Hitler hier bislang tatsächlich Gravierendes übersehen oder falsch gewichtet?
Simms: Diese Migrationsgeschichte ist überhaupt nicht thematisiert worden von seinen Biografen. Der Schwerpunkt lag hauptsächlich auf seinem Gegensatz zum Bolschewismus und der Sowjetunion. Das war sicherlich für ihn sehr wichtig - aber noch wichtiger war der Kampf gegen die "Angelsachsen", wie er sie nannte. Das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten waren ja global dominant. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich sein Hauptaugenmerk auf sie richtete und auf die sogenannte Macht des internationalen Kapitalismus, die für ihn ein sehr viel größerer Feind war als der Bolschewismus.
Die Forschung hat Hitler bis ins kleinste Detail analysiert. Eine Vielfalt von Aspekten wurde bereits untersucht. Verstehe ich Sie richtig, dass Sie davon ausgehen, dass erst in den vergangenen 20 Jahren die Forschung ihren Blick so stark erweitert hat, dass eine globale Dimension entstehen konnte?
Simms: Diese globale Dimension wurde natürlich auch von früheren Historikern thematisiert, allerdings nicht diese Migrationsgeschichte. Auch nicht dieser Gegensatz zum internationalen Kapitalismus. Und vor allen Dingen nicht Hitlers Glaube, dass das deutsche Volk zu schwach war, um gegen die "Angelsachsen" zu bestehen. Er wollte also das deutsche Volk "rassisch", wie er sagte, heben, sodass es auf der gleichen Ebene mit den Angelsachsen sein konnte.
Hat er sich getäuscht?
Simms: Ja, aber vielleicht war er nicht ganz so überrascht. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs war, dass man von den "Angelsachsen" besiegt wurde. Die Ostfront im Zweiten Weltkrieg war für ihn wichtig, aber letztendlich doch eine Nebenfront im Vergleich mit der Westfront. Er hatte mehr Angst vor der Landung in der Normandie und vor allen Dingen vor dem Luftkrieg, was er als Vernichtungsschlag gegen das deutsche Volk verstand. Letztendlich waren es die gleichen Faktoren wie im Ersten Weltkrieg, die das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg in Schwierigkeiten brachten.
Man fragt sich immer wieder, was Hitler zu dem gemacht hat, was er wurde. Er kam aus einfachen Verhältnissen in Braunau, ging nach Wien, reiste mit einem Koffer nach München, sein "geistiges Gepäck", schreiben Sie, sei "noch leichter". Erst mit 25 Jahren habe er begonnen, sich zu politisieren. Ihre Diagnose: Hitlers tiefsitzender Antisemitismus hätte etwas "Abstraktes". Wie ist das zu verstehen?
Simms: Es war abstrakt, weil es keine Belege gibt für direkte Konfrontationen mit Juden. Das gilt für andere Nationalsozialisten der ersten Stunde nicht - wie zum Beispiel Julius Streicher. Hitler hat nach dem Ersten Weltkrieg Unterricht seitens der Reichswehr bekommen. Man hat ihm eingetrichtert, dass die Erklärung für die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg darauf zurückzuführen ist, dass das Deutsche Reich angeblich von bolschewistischen Strömungen, von Juden, unterminiert worden ist - aber auch durch die ungeheure Kraft der Angelsachsen und des internationalen Kapitalismus.
Wie lässt sich dann Hitlers Judenhass begründen?
Simms: Begründen lässt er sich natürlich nicht, sondern nur erklären. Die Erklärung für seinen Antisemitismus ist seine Feindschaft gegenüber dem internationalen Kapitalismus. Der Antibolschewismus ist eindeutig untergeordnet. Er sieht den Bolschewismus, den Sozialismus und andere sogenannte internationale Strömungen als Instrumente, die vom internationalen Kapitalismus benutzt werden, um nationale Wirtschaften willfährig zu machen - um das Deutsche Reich zu unterwerfen und seine Wirtschaft den Kräften des internationalen Kapitalismus preiszugeben. Diesen internationalen Kapitalismus verband er mit dem sogenannten internationalen Judentum - wie andere natürlich auch.
Das Gespräch führte Claudia Christophersen