Friedrich Simon Archenhold vor seinem Sommerhaus in Bansin auf Usedom. © NDR / privat

Astronom Archenhold: Traum und Trauma auf Usedom

Stand: 06.11.2022 05:00 Uhr

Friedrich Simon Archenhold war einer der bekanntesten deutschen Astronomen. Die von ihm gegründete Berliner Sternwarte beherbergt bis heute das weltgrößte bewegliche Linsenfernrohr. Auf Usedom erinnern Spuren an das große Unrecht, das ihm und seiner Familie widerfuhr.

von Heiko Kreft

Abseits vom Trubel der Strandpromenade in Bansin und mehr als 120 Jahre alt: ein Sommerhaus aus Holz. Der einfache Bau stand schon da, als es den Urlaubsort auf Usedom noch gar nicht gab. Kein Schloss, keine großbürgerliche Villa und trotzdem: für Alison Archenhold ist das Haus unendlich wertvoll. "Es ist meine Familiengeschichte. Die deutsche Familiengeschichte", sagt die Britin. Ihr Vater Fred kam in den ersten 18 Jahren seines Lebens jeden Sommer her. "Er liebte es - und als es der Familie weggenommen wurde, war er sehr entrüstet."

Archenhold entwickelt die größte "Himmelskanone" der Welt

Die Sternwarte Treptow um 1900 © NDR
Der temporäre Holzbau samt "Himmelskanone" um 1900 im Treptower Park.

Die Geschichte der Archenholds auf Usedom beginnt 1902. Alisons Großvater Friedrich Simon kauft das Sommerhaus zusammen mit rund fünf Hektar Land. Archenhold ist nicht irgendwer: Er ist damals einer der bekanntesten Astronomen Deutschlands. Sechs Jahre zuvor hat er für die Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park das bis heute größte bewegliche Linsenfernrohr der Welt bauen lassen.

Seine "Himmelskanone" ist eine wissenschaftliche Sensation, ein Publikumsmagnet - aber nur temporär errichtet. Die gewaltige Apparatur ist deshalb nur mit einer provisorischen Bretterbude umbaut. Nach dem Ende der Gewerbeausstellung soll das Fernrohr demontiert werden.

Klinkenputzen für die gute Sache

Friedrich Simon Archenhold, undatierte Aufnahme © Stiftung Planetarium Berlin
Friedrich Simon Archenhold (1861-1939) war einer der bekanntesten Astronomen Deutschlands.

Doch Archenhold hat eine bessere Idee: eine dauerhafte Sternwarte. Ausgerüstet mit einem Modell geht er auf Sponsoren-Suche. Einen findet er im US-Milliardär Andrew Carnegie. Der schreibt einen dicken Scheck. 1909 wird Archenholds Sternwarte eröffnet. Dort zieht er auch mit seiner Familie ein. Ihr heutiger Leiter Stefan Gotthold kennt einige Geschichten vom beharrlichen Spendensammler Friedrich Simon Archenhold. Selbst wenn vielleicht nicht alle Details der Legenden stimmen würden, sagt er, zeichnen sie ein sehr klares Bild: "Es war nicht sein Job. Es war nicht sein Beruf, sondern es war tatsächlich Berufung, das Ganze hier zu entwickeln."

Das Ziel: Astronomisches Wissen für alle

Friedrich Simon Archenhold mit Kindern auf dem Dach der Sternwarte, undatierte Aufnahme © Stiftung Planetarium Berlin
Friedrich Simon Archenhold mit Schulkindern auf dem Dach der Berliner Sternwarte.

Tatsächlich treibt Archenhold ein hohes Ideal an: Astro-Wissen für alle. Egal ob arm oder reich, ob Akademiker oder Arbeiter. "Und damit steht die Sternwarte eigentlich seit Anfang an unter dem Stichwort Volkssternwarte", sagt Gotthold. Viele berühmte Wissenschaftler kommen in die Institution und halten Vorträge, die sich an ein ganz normales Publikum richten.

So lädt Archenhold 1915 auch einen damals noch unbekannten Physiker ein: Albert Einstein. Der spricht in der Sternwarte zum ersten mal öffentlich über seine Relativitätstheorie. Ein Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte.

Freundschaft mit Albert Einstein

Familie Archenhold in Bansin, undatierte Aufnahme © NDR / privat
Sommer auf Usedom: Friedrich Simon Archenhold mit seiner Familie am Strand von Bansin.

Einstein und die Familie Archenhold verkehren zudem privat, erzählt Archenholds Enkeltochter Alison. Man habe sogar miteinander musiziert: "Meine Oma spielte Piano. Mein Onkel Günter Flöte. Einstein Viola und Tantchen Hilde Violine." Mit seinem jovialen Auftreten, seiner sprühenden Leidenschaft für die Wissenschaft ist Friedrich Simon Archenhold ein bekanntes und respektiertes Mitglied der Berliner Stadtgesellschaft. Drei Töchter und zwei Söhne hat Friedrich Simon Archenhold. Gemeinsam verbringt die Familie die Sommer auf Usedom.

"Das Weltall" in Bansin

Historische Ausgabe der Zeitschrift "Das Weltall", herrausgegeben vom Astronomen Friedrich Simon Archenhold. © NDR
Die populärwissenschaftliche Zeitschrift "Das Weltall" wurde von Archenhold auch auf Usedom redigiert.

Für den Astronomen ist das Bansiner Sommerhaus zugleich ein Arbeitsort. Hier beobachtet er in Ruhe den Sternenhimmel, schreibt  und redigiert Texte für "Das Weltall". Die von ihm herausgegebene und finanzierte Zeitschrift richtet sich ebenfalls an ein breites Publikum. Sie berichtet über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Allein zur Relativitätstheorie erscheinen 33 Aufsätze.

Im Urlaubsort Bansin kursieren noch heute Geschichten über Archenhold. Aufgrund seiner Berühmtheit und seiner Nahbarkeit habe er dort eine gewisse Narrenfreiheit gehabt. Anstatt wie vorgeschrieben in Smoking oder Frack habe er das Bansiner Kurhaus sogar im Pyjama betreten dürfen.

Nationalsozialisten zerstören Archenholds Lebenswerk ...

Die Sternwarte in Berlin-Treptow auf einer Aufnahme von 1935 © picture-alliance / akg-images
Wegen ihrer jüdischen Vergangenheit müssen die Archenholds die Sternwarte 1936 verlassen.

Mit 70 Jahren übergibt Friedrich Simon Archenhold 1931 die Berliner Sternwarte an seinen ältesten Sohn Günter. Doch der bleibt nicht lange im Amt. 1936 setzen ihn die Nazis vor die Tür. Aus einem perfiden Grund: Im Rassenwahn der Nationalsozialisten gilt die Familie Archenhold als jüdisch. Obwohl die Familie schon lange zum Christentum konvertiert war.

Die großen Verdienste um naturwissenschaftliche Volksbildung und die Popularisierung der Astronomie zählen plötzlich nichts mehr. Die Familie muss aus ihrer Sternwarte ausziehen. "Aus den wissenschaftlichen Kreisen herausgedrängt zu werden, muss wirklich ein Schlag ins Gesicht gewesen sein", glaubt Stefan Gotthold. Auch das Haus und die Grundstücke auf Usedom gehen für die Familie verloren.

... und seine Familie

Alison Archenhold, Enkelin des Astronomen Friedrich Simon Archenhold, im Gespräch mit dem NDR © NDR
Die Nazis zerstörten sowohl Archenholds Familie wie auch sein Lebenswerk. Er sei an gebrochenem Herzen gestorben, sagt seine Enkeltochter Alison Archenhold.

Aus den Annalen der Wissenschaftsgeschichte getilgt, der Sternwarte und des Ferienhauses beraubt - im Leben des betagten Astronomen sind das längst nicht die schlimmsten Ereignisse. Er muss miterleben, wie Sohn Günter in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert wird. Nur mit Mühe gelingt es Archenhold, ihn dort wieder herauszuholen. Dank guter Kontakte kann Günter nach Großbritannien ausreisen. Dorthin ist bereits der jüngste Sohn Fred geflohen.

Im Oktober 1939 stirbt Friedrich Simon Archenhold in Berlin. "An gebrochenem Herzen", sagt Enkeltochter Alison Archenhold. In der nun unter nationalsozialistischer Regie erscheinenden Zeitschrift "Das Weltall" gibt es nicht einmal eine kurze Todesnotiz - geschweige denn eine Würdigung von Archenholds Leistungen. Nur wenig später werden seine Frau Alice und Tochter Hilde nach Theresienstadt deportiert. Sie kommen dort ums Leben.

"Nie wieder Deutsch"

Von respektierten zu verfolgten Menschen - nicht nur für Alison Archenholds Vater Fred ist das eine traumatische Erfahrung. Mit 19 Jahren verliert er seine Heimat, ist allein in einem fremden Land. In Großbritannien schwört er sich, nie wieder Deutsch zu sprechen oder nach Deutschland zurückzukehren, berichtet Alison Archenhold: "In das Land, das ihm alles nahm. Das den Bruder ins KZ brachte. Das das Ferienhaus nahm. Die Chance auf gute Bildung nahm und ihn zwang, sich zu entscheiden: Deutschland verlassen oder sterben." Fred Archenhold weigert sich deshalb, seiner Tochter auch nur ein einziges deutsches Wort beizubringen.

"Ich wollte sehen, was mein Opa gebaut hat"

Das Fernrohr der Archenhold-Sternwarte in Berlin-Treptow heute © NDR
Bis heute ist Archenholds 1896 gebautes Linsenfernrohr das größte bewegliche der Welt.

Sie schafft es immerhin, den Vater von einem Besuch in Berlin zu überzeugen. Im Oktober 1989, wenige Wochen vor dem Mauerfall, besuchen sie gemeinsam die Sternwarte im Ostteil der Stadt. Noch heute erinnert sich Alison Archenhold gerne an den Trip hinter den "Eisernen Vorhang": "Ich wollte sehen, was mein Opa gebaut hat. Ich kannte es bis dahin nur von einer Postkarte."

Der Gang durch das massive Gebäude sei dann wunderbar gewesen. Die Ehrung ihres Großvaters in der DDR und die Benennung der Sternwarte nach ihm - habe der Familie gut getan.

Rückkehr nach Usedom

Friedrich Simon Archenholds Sommrhaus heute © NDR
Das Archenholdsche Ferienhaus ist alles andere als ein Palast - und doch unendlich wertvoll für die Familie.

Nach der Wende besuchen Alison Archenhold und ihr Vater Fred auch Usedom. Mehr als 50 Jahre später sieht er das Ferienhaus seiner Kindheit wieder. Anfang der 2000er bemüht sich die Familie um eine Rückgabe des in der NS-Zeit verlorenen Eigentums - ein zäher Kampf. Heute lebt Alison Archenhold für einen Großteil des Jahres in dem Bansiner Haus. Es ist die Rückkehr der Familie Archenhold. Dass dort an der Tür wieder der Familienname steht, sei ein Sieg der Gerechtigkeit. Neben der britischen Staatsbürgerschaft hat Alison Archenhold mittlerweile auch die deutsche angenommen.

Ein "Archenhold Museum Bansin" im Geiste des Großvaters

Alison Archenhold, Enkelin des Astronomen Friedrich Simon Archenhold, hält Pläne in der Hand © NDR
Alison Archenhold hegt Pläne für ein "Archenhold Museum Bansin".

Und sie hat einen Traum: das "Archenhold Museum Bansin". Auf dem Grundstück, dass nun wieder der Familie gehört, soll ein Museum für Wissenschaft und Technik entstehen. "Mit freiem Eintritt!" Das ist Alison Archenhold absolut wichtig. Die pensionierte Lehrerin teilt das Ideal ihres Großvaters, dass naturwissenschaftliches Wissen allen zur Verfügung steht.

Aus eigenen Mitteln hat sie bereits einen ersten Architektenentwurf für das Museum anfertigen lassen. "Ich möchte seine Arbeit würdigen und das, was er erreicht hat - zusammen mit vielen Freunden und wunderbaren Menschen." Freunde, Hilfe, Sponsoren - auch Alison Archenhold sucht sie dringend, um ihren Museumsplan zu verwirklichen. Allein kann sie es nicht schaffen.

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Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin | 06.11.2022 | 19:30 Uhr

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