Grenztourismus auf der Elbe
In der niedersächsischen Stadt Hitzacker mit ihren rund 5.100 Einwohnern geht es eher ruhig zu - zumindest heute. Noch bis 1989 war das anders, damals lebte der Ort vom Tourismus. Profitiert haben davon unter anderem Peter und Christine Paulin. Der 62-Jährige ist seit 1976 Kapitän auf der Elbe, seine Frau ist die Eignerin der "Elbe-Star", auf der die beiden täglich Elbrundfahrten anbieten. Als die Elbe nach dem Krieg zur politischen Grenze wurde, änderte sich das Leben am Fluss. Er trennte Hitzacker - neben Sperrgebiet, Metallgitter- und Hinterlandzaun - von der damaligen DDR.
Touristen wollten die Grenzanlagen sehen
Auf der Elbe fuhren Wachboote der DDR auf und ab, am gegenüberliegenden Ufer sah man die Grenzanlagen mit zwei Beobachtungstürmen. Ein Anblick, den nicht jeder Ort zu bieten hatte und einer, der Touristen anlockte. Peter Paulin erinnert sich noch gut. "Damals war hier was los. Hier kamen jeden Tag 10 bis 15 Busse mit Fahrgästen aus der ganzen Republik an. Hitzacker war voll." Besonders groß war der Andrang immer Anfang August, in den Sommerferien. Auch aus Dänemark, Schweden und den Niederlanden kamen dann Gäste, sogar an Australier kann Paulin sich erinnern. Bis zu fünf Touren täglich hat der Kapitän auf der Elbe gemacht und dabei Vorträge über die Grenzanlagen gehalten.
Noch heute schwärmt Peter Paulin von den wissensdurstigen Fahrgästen, die froh waren, wenn sie überhaupt mitkamen und sich auch dann nicht beschwerten, wenn es oben an Deck mal ein wenig enger wurde. "Alle wollten aufs Wasser und die Grenze und Wachboote sehen. Wenn die vorbei fuhren, standen die Fahrgäste plötzlich alle auf einer Seite. Da musste man fast aufpassen, dass das Schiff nicht umkippt. So verrückt waren die Leute", lacht der 62-Jährige.
Uniformen weckten das Interesse der Grenzer
An eine Gruppe erinnert sich Paulin besonders gut: Amerikanische Offiziere mit ihren Frauen, die nach ihrer Stationierung in Deutschland in die Heimat zurückkehrten und zum Abschied noch eine Elbrundfahrt machten. "Sogar mit Uniform waren die an Bord, die hatten eine Sondererlaubnis", betont Paulin. "Da waren die NVA-Boote sofort da und haben fotografiert." Uniformen waren ansonsten am Ufer untersagt, selbst Bundeswehr-Soldaten durften damit nicht direkt ans Wasser, um auf der "anderen Seite" niemanden zu provozieren.
Großes Interesse zeigten die DDR-Wachboote auch an Zollbeamten. Die fuhren immer dann an Bord der "Elbe-Star" mit, wenn eine Reisegruppe eine "offizielle Führung" wünschte. "Wenn ich einen Zollbeamten an Bord hatte, haben die Boote schon auf uns gewartet und geguckt, was der auf dem Wasser will", erzählt Paulin. "Das haben die drüben immer schon vorher gewusst, ich möchte nicht wissen, wie viele Spione wir in Hitzacker hatten." Otto Meyer, 72, war einer der Zollbeamten, er hat sowohl an Land als auch zu Wasser Vorträge über die Grenzanlagen gehalten. Für das Zollkommissariat Hitzacker führte er Buch über die Gäste, die allein sein Amt zur Grenze führte. 3.000 bis 5.000 waren das im Monat, die Fahrgäste von Peter Paulin nicht mit eingerechnet.
Rinder und Schafe kamen in den Westen
Auch wenn die Stimmung an der Grenze oft beklemmend war, haben Otto Meyer und Peter Paulin hier auch lustige Geschichten erlebt. In einem Sommer etwa - an das Jahr erinnern sich die beiden nicht mehr genau - hat eine Herde Jungrinder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, die auf den Elbwiesen vor dem Zaun graste, "rüber gemacht". "Das war bei Niedrigwasser. Eine Kuh bekam wohl Durst und trabte zum Ufer - und alle anderen hinterher. Jedenfalls standen auf der Westseite plötzlich 30 fremde Rinder", erzählt Otto Meyer. Er erfuhr damals über das "rote Telefon" von dem Vorfall, über das die Regierungen Vorfälle auf der Elbe besprachen, die beide Seiten betrafen. Das konnten Hochwasser, Schiffsunfälle - oder eben "geflüchtete" Tiere sein.
Schnell wurden im Westen Bauern gerufen, um die Tiere einzufangen. Die mussten separat gehalten und von Tierärzten untersucht werden, um sicher zu gehen, dass sie sich im Westen nicht mit irgendetwas angesteckt hatten. Als an diesem Nachmittag die Fahrgäste der "Elbe-Star" kamen, herrschte in Hitzacker noch immer Chaos. Erst nach dreitägigen Verhandlungen und nachdem die DDR die Veterinär- und Futterkosten übernommen hatte, wurden die Rinder mit Transportern zurückgebracht. Während die beiden Männer noch heute darüber lachen können, fand das DDR-Regime die Angelegenheit damals nicht so lustig. 1988 beging Schafbock "Erich" Republikflucht nach Hitzacker. Nochmal wollte die DDR die Kosten nicht tragen und schenkte das Tier der Stadt Hitzacker. Die hatte jedoch keine Verwendung für "Erich", der letztlich bei einem Bauern im Grenzstreifen unterkam. Die lokale Presse griff den Fall damals auf und sogar das Fernsehen berichtete darüber.
Der Kampf um die Gunst der Touristen
Bis zur Grenzöffnung war einiges los in Hitzacker. Die Cafés, Restaurants und Hotels im Ort und der Umgebung profitierten vom Grenztourismus. Mit den Grenzzäunen verschwand auch der Großteil der Touristen. Einige kommen noch immer. Die meisten fragen als erstes nach der Mauer. Die hat aber nichts mit der ehemaligen innerdeutschen Grenze zu tun. Weil Hitzacker immer wieder mit schwerem Hochwasser zu kämpfen hatte, wurde 2003 eine Schutzmauer an der Elbe bewilligt. Seit 2008 steht sie, ist inzwischen über die Landesgrenze hinaus bekannt und lockt Touristen an - wenn auch längst nicht so viele, wie die Grenze es damals getan hat.
Auch Peter Paulin und seine Frau Christine haben sehr viel weniger Fahrgäste als noch zu Grenzzeiten. Und trotzdem: Die beiden sind froh, dass die Grenze endlich weg ist. Nur wäre es schön, wenn das Geschäft ein bisschen besser laufen würde. Ihr Sohn Christian fährt inzwischen auf der "Elbe-Star" mit. Sobald er sein Elbpatent, also seinen Führerschein für die Elbe in Händen hält, könnte er in vierter Generation die Elbe-Rundfahrten übernehmen. Ob sich das lohnt, wird sich allerdings noch zeigen müssen.