"Wir hatten beide ein Fahrrad und 50 D-Mark"
Die Wut in Christian Mothes' Stimme ist deutlich zu hören im Sommer 1991: "Wir werden von Woche zu Woche vertröstet", sagt er damals in die Kamera. "Es passiert für die Mitarbeiter nichts". Mothes spricht für Hunderte ehemalige Beschäftigte des FDGB-Feriendienstes "Fedi" in der Urlaubs-Hochburg Kühlungsborn. In der DDR hatte der Gewerkschaftsbund staatlich unterstützte Ferienreisen für Werktätige organisiert. Nun hat der Feriendienst seinen Betrieb seit Monaten eingestellt und die Mitarbeiter auf die Straße gesetzt. Die warten auf versprochene Lohnfortzahlungen. Briefe an Spitzenpolitiker und Mahnwachen der Gekündigten bleiben ohne Erfolg. "Wir sind wirklich am Ende", sagt der Betriebsrat.
Massive Arbeitslosigkeit in FDGB-Hochburgen
"Die Menschen haben eigentlich keine Rolle gespielt. Die standen von Montag zu Dienstag auf der Straße", blickt Christian Mothes heute auf diese Zeit zurück. Irgendwann habe es tatsächlich eine Abfindung vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) gegeben - 2.000 Mark etwa, schätzt er. Trotzdem: Die Branche liegt am Boden. In den Ostsee-Orten hat nach dem Jubel über die Wiedervereinigung die Katerstimmung eingesetzt - bei Arbeitslosenquoten von bis zu 70 Prozent. Eine Zeit ohne Perspektive sei das gewesen, sagt Christian Mothes heute. Erst jetzt im Nachhinein könne er sagen, dass doch alles gut gelaufen sei.
Treuhand gibt Häuser zurück
Damals gibt es viele Probleme bei der Privatisierung der FDGB-Heime. Oft sind Eigentumsverhältnisse nicht geklärt, aber auch die Standards machen Probleme. In den ehemaligen Häusern für die Werktätigen entsprechen sie vielerorts nicht dem westdeutschen Maßstab. In Kühlungsborn sind es etwa 50 Objekte, die in dieser schwierigen Lage möglichst in die Marktwirtschaft überführt werden sollen - zunächst von der Treuhand in Berlin. Doch dieser Plan geht nicht auf. Im März 1991 wird die Verantwortung für DDR-weit mehr als 700 Häuser zurück an die Kommunen gegeben. Kühlungsborns Bürgermeister Knut Wiek (SPD) kommentiert diese Entscheidung damals erleichtert, auch wenn sie für die laufende Saison viel zu spät komme. Man wolle sich nun bemühen, "Bürger aus dem Ort einzubinden" erklärt er.
Millionen-Kredit für das eigene Hotel
Einer dieser Bürger wird Christian Mothes. Für den gebürtigen Vogtländer, der seit den 70er-Jahren an der Ostsee lebt und arbeitet, steht damals fest: Er will in Kühlungsborn bleiben und selbst ein Hotel führen. Gemeinsam mit einem Partner bewirbt er sich um das Haus "Waterkant". Die Einheimischen treten gegen mehrere Interessenten aus dem Westen an. Eigenkapital fehlt ihnen: "Wir hatten beide ein Fahrrad und 50 D-Mark Sicherheit, sind zur Bank gefahren und haben dann einen Kredit von 1,7 Millionen gekriegt." Darüber sei er heute noch überrascht, sagt Mothes. 1993 kaufen sie den heutigen "Rosenhof", schon im darauffolgenden Jahr wird eröffnet.
"Besser-Wessis" an der Ostsee
Als das Tourismus-Geschäft an der ostdeutschen Küste wieder richtig anläuft, lassen auch westdeutsche Geschäftsleute, die hier Geld verdienen wollen, nicht lange auf sich warten. Auf sie blickt Mothes heute differenziert: Über einige habe er sich gefreut, andere seien arrogant aufgetreten: "Es waren eben auch welche dabei, die gesagt haben: 'So müsst ihr atmen und so wird Fahrrad gefahren' - weil die dachten, Atmen und Fahrradfahren können wir in der DDR nicht."
Hotel bleibt in Mitarbeiter-Hand
Er selbst entwickelt den "Rosenhof" zusammen mit seinem Geschäftspartner weiter: 1998 folgt ein großer Anbau mit neuen Ferienwohnungen. Heute gehören alle Apartments des Hauses unterschiedlichen Besitzern. Das Hotel verwaltet und vermietet sie und steckt dabei mitten im Generationswechsel. Mothes' Partner ist bereits in Rente, er selbst freut sich darauf, im kommenden Jahr zu gehen. Das Geschäft soll in die Hand zweier Mitarbeiter übergeben werden, die schon seit Jahren hier zusammen arbeiten. "So wie es bei uns damals war", sagt der Chef.
Übernachtungsboom und westdeutsche Gäste
In Kühlungsborn hat sich das Gesicht des Ortes bis heute massiv verändert. Graue Beton-Würfel sind sanierter Bäder-Architektur gewichen. Die Stadt boomt: Seit Mitte der 90er-Jahre hat sich die Zahl der Übernachtungen hier mehr als verfünffacht. Und auch die Gäste sind andere geworden: Heute reisen sie nicht mehr voranging aus dem Osten der Bundesrepublik an, sondern aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Berlin. Gäste aus dem Ausland kommen meist aus der Schweiz und Skandinavien.
Verlorenes Erbe der DDR-Zeit
Der 69-Jährige Hotelier Christian Mothes freut sich selbst auf mehr Zeit fürs Reisen. Das sei etwas, das er mit der Wiedervereinigung dazugewonnen habe, erzählt er. In Dubai sei er schon mehrfach gewesen und auf Kreuzfahrten. Verloren gegangen ist aus seiner Sicht aber auch einiges: Dass der Palast der Republik abgerissen wurde, versteht er beispielsweise nicht. Dort hätte ein Museum entstehen können. Praktisches aus dem DDR-Alltag wie die SERO-Altstoffsammlung oder der DDR-Sozialversicherungsausweis, in dem das Arbeitsleben lückenlos dokumentiert war, hätten auch im vereinten Deutschland übernommen werden können. Dass alles, was an die DDR erinnerte, weg musste, sagt er, "das ärgert mich heute noch". Und bei diesem Thema sind wieder Wut und Enttäuschung in seiner Stimme zu hören - wie schon vor knapp 30 Jahren als Betriebsrat.