Nach dem Orkan "Capella" werden Evakuierte der Haseldorfer Marsch (Kreis Pinneberg) am 5. Januar 1976 mit dem Traktor ins Trockene gebracht. © dpa - Bildarchiv Foto: Cornelia Gus

Zeitzeuge zur Sturmflut 1976: Die Haseldorfer Marsch versank

Stand: 03.01.2016 07:00 Uhr

Im Januar 1976 sorgt eine enorme Sturmflut für Deichbrüche und Überschwemmungen in der Haseldorfer Marsch. Das Elternhaus des Schäfers Ernst Schüder wird von Wasser umschlossen.

von Tim Radtke

Ernst Schüder steht auf dem Deich bei Haselau (Kreis Pinneberg) und blickt auf die Elbe - heute fließt sie gemächlich dahin. Ganz anders als Anfang 1976: Da lebte der Schäfer auch schon hier in der Haseldorfer Marsch bei seinen Eltern und einer der schwersten Orkane der letzten 100 Jahre fegte am 3. Januar über weite Teile Europas hinweg. "Capella" wurde er später genannt. Benannt nach einem Schiff aus Rostock, das in der Nordsee sank. Bei dem Unglück starben elf Seeleute. Insgesamt forderte der Orkan 82 Menschenleben im Januar 1976. Auch in Schleswig-Holstein hatte er bereits erste Schäden angerichtet.

"Da kommt was auf uns zu"

Auch in Schüders Heimat sorgte eine Sturmflut für chaotische Zustände. Ein Deich zwischen Hetlingen und Holm war an neun Stellen gebrochen. Das Wasser floss unaufhaltsam in die Marsch. Zwei Wochen lang herrschte der Ausnahmezustand. An diesem 3. Januar war der damals 21-jährige Ernst Schüder bereits früh mit seinem Vater auf dem Deich. "Da kommt was auf uns zu, sagte mein Vater schon früh, als die Lage noch überschaubar war."

Wie schlimm die Sturmflut genau werden würde, das war allerdings noch keinem klar. Die Familie stellt sich zahlreiche Fragen: Wie hoch kommt das Wasser jetzt? Musss die auch nach oben? Sollen sie die Tiere laufen lassen, oder ertrinken sie in den Ställen? "Wir mussten es ja drauf ankommen lassen", berichtet Schüder.

Gegen 17 Uhr bricht der Deich

Am frühen Abend erfuhr Ernst Schüder, dass sich die schlimmsten Befürchtungen bestätigt hatten: Um kurz vor 17 Uhr war der Deich bei Hetlingen an mehreren Stellen gebrochen. Ein paar Stunden dauerte es allerdings noch, bis er und seine Familie das Ausmaß der Dammbrüche zu spüren bekamen: "Um halb elf kam das Wasser von hinten. Am nächsten Morgen war rund ums Haus Wasser", erzählt er. Es blieb für 14 lange Tage.

Mit dem Boot zum Stall, die Tiere retten

Kühe im überschwemmten Gebiet. © Ernst Schüder Foto: Ernst Schüder
Viele Orte in der Haseldorfer Marsch waren von der Außenwelt abgeschnitten.

Hilfe gab es zunächst nicht. Mehrere Orte in der Haseldorfer Marsch waren praktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Jeder musste selbst zusehen, wie er das Schlimmste verhindern konnte: "Wir hatten ein kleines Boot. Das haben wir dann flott gemacht. Damit sind wir zum Hühnerstall gefahren." Die Tiere hätten alle unten im Wasser gesessen. "Weil sie nass waren, konnten sie nicht mehr hochkommen", berichtet Schüder. "Mit dem Boot haben wir dann das Vieh - einiges war in den Ställen bis zum Bauch im Wasser - zum Haupthaus rangeholt."

Kein Strom, kein Licht

Die Stromversorgung war komplett zusammengebrochen. Ernst Schüder und seine Familie waren aber noch besser dran, als viele andere in ihrer Nachbarschaft, sie konnten immerhin noch heizen, hatten noch trockenes Brennholz. So mussten sie wenigstens nicht frieren. Erst nach und nach kam Hilfe. Strom gab es in den ersten Tagen aber trotzdem immer nur für kurze Zeit. Der erste Generator gab schon nach einer halben Stunde seinen Geist auf. Erst ein neuer von der Straßenmeisterei aus Neumünster sorgte dann nach einigen Tagen wieder dafür, dass die Familie nicht mehr ab 17 Uhr im Stockdunklen saß.

Pumpen arbeiten Tag und Nacht

Nach und nach liefen die Hilfsmaßnahmen an. Aus dem ganzen Land kamen die Helfer in die Haseldorfer Marsch. Ernst Schüder macht eine weit ausholende Handbewegung auf dem Deich bei Haselau: "Auf dem ganzen Deich hier von Hohenhorst bis hierher stand Feuerwehrwagen an Feuerwehrwagen, aus ganz Schleswig-Holstein. Das war unglaublich!" Tag und Nacht arbeiteten die Pumpen, Liter um Liter wurde in die Elbe zurückgepumpt. Aber es ging langsam, sehr langsam.

"Jeder hat jedem geholfen"

Auch Schüder selbst packte mit an. Er verteilte unter anderem die Eier der Hühner in der Nachbarschaft, half, wo er konnte: "Jeder hat jedem geholfen." Die Familie selbst bekam Futter für die Tiere von Landwirten aus Dithmarschen. Ohne diese Unterstützung wären viele ihrer Tiere verhungert. Immerhin: Kein Mensch ist bei dem Orkan und der Sturmflut in der Haseldorfer Marsch ums Leben gekommen. Alles andere konnte wieder aufgebaut werden.

Mittlerweile sind neue Deiche errichtet worden. Ernst Schüder ist hier regelmäßig unterwegs. Seine Schafe sorgen für die Deichpflege. Entspannt beobachtet er die Elbe. Angst vor einer neuen Sturmflut hat er nicht. Die zwei Wochen im Januar 1976, die zwei Wochen mit den Wassermassen rund um sein Haus, die wird er allerdings nie vergessen.

Weitere Informationen
Ein Gehöft im Kehdinger Land ist nach der Sturmflut im Januar 1976 von Wassermassen eingeschlossen © dpa /picture alliance Foto: Dieter Klar

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In Hamburg steigt das Wasser damals so hoch wie nie, auf der Nordsee stirbt die Besatzung des Frachtschiffs "Capella". mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Guten Morgen Schleswig-Holstein | 03.01.2016 | 07:10 Uhr

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