VIDEO: Hamburg damals: Zehn Jahre nach dem Eppendorfer Unfall (4 Min)

Eppendorfer "Todesfahrer": Wo fing die Schuld an?

Stand: 07.06.2022 14:10 Uhr

Im Frühjahr 2011 fährt ein Epileptiker in Hamburg-Eppendorf in eine Gruppe Menschen. Vier von ihnen sterben, darunter Dietmar Mues und Günter Amendt. Hamburg steht unter Schock. Durfte der Mann überhaupt fahren?

von Stefanie Grossmann

Es ist der 12. März 2011, ein frühlingshafter Sonnabend in Hamburg. An einer belebten Kreuzung im mondänen Stadtteil Eppendorf verliert der 38-jährige Caesar S. kurz vor 17 Uhr wegen eines Krampfanfalls die Kontrolle über seinen Fiat Punto. Das Fahrzeug rast mit 100 Kilometern pro Stunde auf der Eppendorfer Landstraße an einer roten Ampel vorbei, rammt dabei ein Auto, überschlägt und dreht sich mehrfach. Schließlich kracht es in eine Menschengruppe, die am Bürgersteig darauf wartet, dass die Ampel auf Grün springt. Es ist ein folgenschwerer Unfall: Vier Menschen sterben. Mindestens drei weitere werden verletzt, auch der Unfallverursacher. Für die Menschen in Eppendorf ist es ein schwarzer Tag.

Unter den Opfern sind Dietmar Mues und Günter Amendt

Ein Foto des verstorbenen Schauspielers Dietmar Mues liegt am Montag (14.03.2011) zwischen Blumen auf einem Fußweg im Stadtteil Eppendorf in Hamburg, wo am Samstag (12.03.2011) vier Menschen bei einem Verkehrsunfall um Leben kamen © picture-alliance / dpa Foto: Bodo Marks
Auch der Schauspieler Dietmar Mues und seine Frau gehören zu den Todesopfern.

Ein umgestürztes Autowrack, umherliegende Trümmerteile, unzählige Rettungswagen - und Notärzte, die Unfallopfer reanimieren: Die schrecklichen Bilder des Eppendorfer Unfalls erschüttern damals ganz Hamburg, auch weil die Opfer prominent sind. Der Schauspieler Dietmar Mues steht zum Zeitpunkt des Unfalls mit Frau Sibylle und einem Tandem an der Kreuzung. Viele kennen ihn aus seinen Rollen im "Tatort" und in "Bella Block", etliche Jahre gehört er zum Ensemble des Hamburger Schauspielhauses. Beide reißt der Unfallfahrer in den Tod, genauso wie den bekannten Sozialwissenschaftler Günter Amendt und die Künstlerin Angela Kurrer, Stiefmutter des Schauspielers Dominic Raacke. In dem gerammten Auto sitzen Schauspieler Peter Striebeck und seine Frau Ulla, die bei dem Aufprall leicht verletzt werden.

Ehepaar Mues hinterlässt drei Söhne: Wanja, Jona und Woody

Die Brüder Jona (l-r), Woody und Wanja Mues tragen die Urne ihrer Eltern Dietmar und Sibylle Mues am Samstag (02.04.2011) in Hamburg auf dem Ohlsdorfer Friedhof zur Grabstelle. © picture alliance / dpa | Presse-Nord Foto: Benjamin Langer
Ein schwerer Gang: Jona, Woody und Wanja Mues (v.l.n.r.) tragen die Urne zum Grab der Eltern.

Die Anteilnahme unter Hamburgs Bürgerinnen und Bürgern ist groß: Am Tag nach dem Unfall legen sie Blumen am Ort des Geschehens ab. Und sie hinterlassen persönliche Botschaften: "Der letzte Vorhang ist gefallen. Warum?", steht auf einem gelben Zettel an das Ehepaar Mues. Zurück bleiben auch ihre Söhne Wanja, Jona und Woody, die mit dem Verlust beider Eltern leben müssen.

Drei Wochen nach dem Unfall nehmen mehrere Hundert Menschen bei einer Trauerfeier auf dem Ohlsdorfer Friedhof Abschied von Dietmar und Sibylle Mues. In einem Interview mit dem NDR erinnert sich Woody Mues, zum Zeitpunkt des Unfalls 20 Jahre alt, sein 17 Jahre älterer Bruder Wanja habe vieles in die Hand genommen. Aber sie hätten auch viele Freundinnen und Freunde ihrer Eltern gehabt, die ihnen Organisation und Bürokratie abgenommen hätten. "Das war ein großes Glück, weil wir uns so Zeit für die Trauer nehmen konnten", so Woody Mues weiter.  

Unfallfahrer erleidet immer wieder Krampfanfälle am Steuer

Während die Angehörigen trauern, kommen immer mehr Details über den Unfallfahrer an die Öffentlichkeit. Während des Unfalls steht er unter Drogen, bei einem Test wird er positiv auf den Cannabis-Wirkstoff THC getestet. Und es ist nicht der erste schwere Crash, den Caesar S. verursacht. Vor dem Eppendorfer Unfall soll es drei weitere gegeben haben - ebenfalls in Verbindung mit Krampfanfällen. Nach dem dritten Unfall verliert Caesar S. 2008 seinen Führerschein, doch er klagt gegen den Entzug. Mit Erfolg: 2009 bekommt er die Fahrerlaubnis zurück. Ein epileptischer Anfall am Steuer sei für ihn nicht vorhersehbar gewesen, heißt es damals zur Begründung des Kieler Landgerichts. Noch im gleichen Jahr untersagt ihm allerdings sein damaliger Arbeitgeber, ein Dienstfahrzeug zu führen. Die Versicherung will für eventuelle Schäden nicht mehr haften. Caesar S. fährt trotzdem weiter, bis sein Arbeitgeber 2010 das Fahrverbot schriftlich festhält.

Durfte Caesar S. als Epileptiker überhaupt Auto fahren?

Dürfen sich Epileptiker überhaupt hinter das Steuer eines Auto setzen? Diese Frage beschäftigt damals nicht nur die aufgebrachte Hamburger Öffentlichkeit, sondern auch die Rechtssprechung. Wer an Epilepsie erkrankt ist und mindestens zwei spontane Anfälle erlitten hat, muss mindestens ein Jahr anfallsfrei sein, um privat selbst Autofahren zu dürfen. Die öffentliche Personenbeförderung ist zum Beispiel ausgeschlossen. Nimmt ein Epileptiker über mehrere Jahre verschiedene Medikamente ein, um keine Krampfanfälle zu bekommen, muss eine Anfallsfreiheit von zwei Jahren gegeben sein. Diese grundsätzlichen Regeln rund um die Fahrtauglichkeit bei Epilepsie legt die Bundesanstalt für Straßenwesen fest. Unabhängig davon ist Fakt: Caesar S. hatte eine gültige Fahrerlaubnis - mit richterlicher Billigung.

Die Richter müssen sich im Hinblick auf einen Prozess also mit heiklen juristischen Fragen auseinandersetzen. Auch wenn der Unfallfahrer aus Sicht der Staatsanwaltschaft wegen des Krampfanfalls im Moment des Crashs schuldunfähig ist, so bleibt doch die Anschuldigung, im Wissen um die Krankheit und dem damit einhergehenden Risiko Auto gefahren zu sein. "Wir verlagern den Anklagevorwurf ins Vorfeld des tödlichen Unfalls" erklärt Oberstaatsanwalt Wilhelm Möller daher gegenüber der "Welt". Als mögliches Strafmaß könnte eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren drohen. Allerdings liegt auch ein Freispruch im Bereich des Möglichen.

Angehörige halten Klärung der Schuldfrage für wichtig

Die Brüder Wanja und Woody (l), Söhne des bei einem Verkehrsunfall getöteten Schauspielers Dietmar Mues, kommen am Donnerstag (31.05.2012) zu Beginn eines weiteren Prozesstages gegen den Unfallfahrer von Eppendorf im Landgericht in Hamburg an. © picture-alliance / dpa Foto: Christian Charisius
Die Brüder Wanja und Woody Mues (links) treten im Prozess gegen den "Todesfahrer" als Nebenkläger auf.

Gut ein Jahr nach dem Unfall, am 26. März 2012, beginnt das Verfahren gegen Caesar S. vor dem Hamburger Landgericht wegen fahrlässiger Tötung in vier Fällen, fahrlässiger Körperverletzung sowie vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs. Vor der großen Strafkammer sind zehn Verhandlungstage angesetzt, vier Sachverständige und 28 Zeugen sind geladen. Ein Heer von Journalisten begleitet den Prozessauftakt.

Wanja, Jona und Woody Mues treten als Nebenkläger vor Gericht auf. Ein Prozess, der die Schuldfrage des "Todesfahrers" klärt, sei wichtig für sie, sagt Wanja Mues im November 2011 dem "Hamburger Abendblatt". Um die Höhe des Strafmaßes gehe es den Angehörigen dabei nicht. Vielmehr würde eine Feststellung der Schuld helfen, "in der Trauer weiterzukommen und irgendwann hoffentlich mal einen Punkt zu finden, an dem die Sache abgeschlossen ist."

"Er hätte sich niemals hinters Steuer setzen dürfen"

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, infolge eines akuten epileptischen Geschehens die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und einen Verkehrsunfall verursacht zu haben, durch den vier Menschen starben und drei Menschen verletzt wurden. Die Prozessführung geht davon aus, dass dem Angeklagten seine Erkrankung bekannt ist. Wegen des epileptischen Anfalls und des damit verbundenen Kontrollverlusts hält sie den Angeklagten zum konkreten Unfallzeitpunkt für nicht verantwortlich im strafrechtlichen Sinne. Aber: "Er hätte sich niemals hinters Steuer setzen dürfen", so Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers. Für das Gericht ist es deshalb auch unerheblich, dass ein Drogentest beim Unfallverursacher die Einnahme des Cannabis-Wirkstoffs THC feststellt hat.

Angeklagter Caesar S. bestreitet, Epileptiker zu sein

Der Angeklagte Unfallfahrer von Eppendorf sitzt am Dienstag (05.06.2012) zu Beginn eines weiteren Prozesstages im Landgericht in Hamburg neben seinem Anwalt Ralf-Dieter Briel (l). © picture-alliance / dpa Foto: Christian Charisius
Bis zum Schluss der zehn Verhandlungstage behauptet der Angklagte Caesar S., kein Epileptiker zu sein. Neben ihm sitzt sein Anwalt Hans-Peter Briel.

Die Angehörigen hoffen bereits am ersten Verhandlungstag auf Einsicht beim Angeklagten: "Dass er zu seiner Schuld steht und um Verzeihung bittet", sagt Wolf Römmig, der Anwalt der Nebenkläger. Doch das geschieht nicht. Während des Prozesses räumt der Angeklagte zwar ein, bereits mehrmals Krampfanfälle gehabt zu haben. Dennoch bestreitet er vehement, Epileptiker zu sein.

Das aber widerlegt die Beweisaufnahme: Verschiedene Ärzte hatten Caesar S. eine Epilepsie-Erkrankung bescheinigt und ihm seit 2005 Medikamente verordnet. Im Verlauf des Prozesses treten außerdem ein Neurologe und ein Rechtsmediziner als Gutachter auf und diagnostizieren bei dem Angeklagten ebenfalls Epilepsie. Am achten Verhandlungstag wendet sich Caesar S. erstmals an die Angehörigen: "Ich bitte um Verzeihung, könnte mir an Ihrer Stelle aber nicht verzeihen." Woody Mues verfolgt fast jeden Prozesstag - für ihn sei das keine Entschuldigung, sondern eine Beleidigung, erklärt er gegenüber dem "Hamburger Abendblatt".

Haftstrafe für den Eppendorfer "Todesfahrer"

In ihrem Schlussplädoyer fordert die Staatsanwaltschaft eine Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten. Die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Am 5. Juni 2012 wird Caesar S. schließlich zu dreieinhalb Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Außerdem wird ihm der Führerschein für fünf Jahre entzogen. "Leider nicht für immer, wenn ich das mal in meinen eigenen Worten sagen darf", sagt die Vorsitzende Richterin Birgit Woitas. Für ein härteres Urteil fehlt ihr die Rechtsgrundlage. In der Urteilbegründung spricht sie zudem von einem "hohen Maß an Pflichtwidrigkeit, das an bedingten Vorsatz grenze". Der Angeklagte habe Warnsignale für seine Epilepsie missachtet und sogar seinem Arzt Anfälle verschwiegen. Woody Mues zeigt sich erleichtert über das Urteil. Er hoffe, dass er jetzt mit dem "Brimborium der Öffentlichkeit" abschließen kann und "wieder an zwei Menschen denken darf."

Mahnmal erinnert an die Opfer des Unfalls

Angehörige, Freunde und Weggefährten nehmen am 12.03.2014 an der Einweihung einer Erinnerungsstätte für die vier Menschen teil, die bei einem Unfall in Hamburg-Eppendorf vor drei Jahren starben. © picture-alliance / dpa Foto: Bodo Marks
Drei Jahre nach dem folgenschweren Unfall wird im Gedenken an die Opfer eine zerrissene Bank als Mahnmal in Eppendorf eingeweiht.

Drei Jahre nach dem Tod der Opfer findet an der Unfallstelle in Eppendorf eine Gedenkfeier statt. In Anwesenheit der Hinterbliebenen wird ein Mahnmal eingeweiht - eine Bank, durch die ein Riss geht. Auf ihr ist eine kleine Gedenktafel mit den Namen der Opfer angebracht. Es ist ein Ort zum Innehalten in der Hektik des Alltags. Für Woody Mues hat sich diese Erinnerungsstätte in der schweren Zeit zu einer Art Kraftort entwickelt: "Ich verweile hier gerne und denke an unsere Eltern", sagt er damals dem NDR. Er freue sich zu sehen, dass dieser Ort immer belebt ist. Er erinnere an den Verlust von vier Menschen und zeige, wie zerbrechlich das Leben sein kann.

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Dieses Thema im Programm:

Hamburg Journal | 14.03.2021 | 19:30 Uhr

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