1944: Gestapo-Razzia besiegelt Ende von Hamburgs Chinatown
Am 13. Mai 1944 führt die Gestapo rund um die Schmuckstraße in Hamburg-St. Pauli eine Razzia durch. Bei der "Chinesenaktion" werden die verbliebenen 129 Bewohner der einst größten deutschen Chinatown verhaftet.
"Plötzlich stürmte ein mit Maschinenpistolen bewaffneter Gestapo-Trupp das von Chinesen betriebene Lokal. Alle asiatisch aussehenden Männer wurden festgenommen und auf die Straße geführt." Unbekannter Zeuge der Chinesenaktion, WDR Zeitzeichen 13.05.2004
Der Endpunkt ist klar zu bestimmen: Am 13. Mai 1944 hört das Hamburger Chinatown auf zu existieren. 200 Beamte von Polizei und Gestapo verhaften bei der "Chinesenaktion" die verbliebenen 129 Bewohner, allesamt Männer. Der offizielle Vorwurf lautet "Feindbegünstigung": Die Chinesen sollen Landsleuten die Flucht aus Deutschland ermöglicht haben, welche anschließend auf britischen Handelsschiffen gearbeitet hätten.
Für die Verhafteten beginnt mit der Razzia ein Martyrium, bei dem sie misshandelt und in Zwangsarbeiterlager gesteckt werden. Mindestens 17 von ihnen überleben die Verletzungen und körperliche Ausbeutung nicht.
Gekommen als Heizer, geblieben als Restaurantbetreiber
Im Gegensatz zum Ende ist der Beginn des Hamburger Chinesenviertels nicht klar zu bestimmen. Im Zuge der internationalen Dampfschifffahrt entwickelt sich eine Arbeitsmigration, die zum ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend auch Hamburg erfasst. Im Gebiet um die Schmuckstraße auf St. Pauli siedeln sich Chinesen an. Sie kommen als Seeleute, vornehmlich als Heizer auf Handelsschiffen, und bleiben als Wäscher, Köche, Kellner oder Restaurantbetreiber. In den 1920er-Jahren nimmt ihre Zahl stetig zu.
Karte: Hier befand sich das Hamburger Chinesenviertel
Einer von ihnen ist Chong Tin Lam. Er arbeitet nach seiner Ankunft in Hamburg zunächst im Lokal seines Onkels und eröffnet 1936 in der Heinestraße 14 (heute Hamburger Berg) sein eigenes Restaurant "Hong-Kong" mit kantonesischen Spezialitäten. "Aus dieser Zeit gibt es bis heute Gerüchte über Tunnelgänge, versteckte Opiumhöhlen und illegale Glücksspiele", heißt es auf der Homepage des bis heute bestehenden Betriebs. Tatsächlich befinde sich im Keller ein zugemauerter Tunneleingang und eine alte Badewanne, die auf Opiumrituale hindeutet. "An den Mythen scheint also etwas dran zu sein."
"Hong-Kong-Bar" das letzte sichtbare Zeugnis der Chinatown
Auch Chong Tin Lam wird von den Nationalsozialisten nach der "Chinesenaktion" in Arbeitslager gesteckt und misshandelt. Ihr Vater sei danach nicht mehr derselbe gewesen, erzählt Chong Tin Lams Tochter Mariette Solty vor fünf Jahren dem NDR: "Früher war er lebenslustig und aufgeschlossen, jetzt zog er sich vollkommen zurück, traf sich mit niemandem mehr." Anders als viele andere Überlebende kehrt Chong Tin Lam Deutschland nach dem Krieg nicht den Rücken.
"Er konnte das 'Hong-Kong', das zwischenzeitlich enteignet worden war, mit neuen Konzessionen zurückgewinnen und erweiterte die Gaststätte um einen Hotelbetrieb", heißt es auf der Webseite weiter. Nach seinem Tod 1983 führt seine Tochter den Betrieb weiter - bis auch sie 2021 stirbt. Die Bar besteht auch über ihren Tod hinaus fort und ist bis heute das letzte sichtbare Zeichen des alten Chinesenviertels inmitten von Tätowierstuben, Schnellimbissen und Discobars, die um die Aufmerksamkeit von Partygängern und Touristen wetteifern.
Das war vor gut 90 Jahren noch anders:
"Haus bei Haus in der Schmuckstraße ist von der gelben Rasse bewohnt, jedes Kellerloch hat neben oder über dem Eingang seine seltsamen Schriftzeichen. Die Fenster sind dicht verhängt über schmale Lichtritzen huschen Schatten, kein Laut dringt nach außen. Alles trägt den Schleier eines großen Geheimnisses." Lokaldichter Ludwig Jürgens: Chinesenviertel, 1930
Die chinesische Gemeinschaft besteht ausschließlich aus Männern und wächst über die Jahrzehnte auf etwa 2.000 an. Die Chinatown auf St. Pauli ist im Vergleich zu denen in New York oder San Francisco damit zwar klein, gleichwohl ist sie die größte in Deutschland. In einem Artikel befasst sich auch der Schriftsteller Kurt Tucholsky mit dem hanseatisch-chinesischen Phänomen:
"Im chinesischen Restaurant sangen sie beim Tanzen, die ganze Belegschaft, einstimmig und brausend." Kurt Tucholsky: Auf der Reeperbahn nachts um halb eins, 1927
Staatlicher Rassismus schon vor den Nazis
Doch längst nicht jeder ist von der Einwanderung begeistert. Bereits weit vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 setzt staatlicher Rassismus ein, wie der Historiker Lars Amenda in zahlreichen Veröffentlichungen über Hamburgs Chinatown und dessen Ende herausarbeitet. Bereits 1925 erwirkt die Hamburger Polizei demnach die Verschärfung des Hafengesetzes. Derzufolge muss der Polizei eine Liste mit allen Besatzungsmitgliedern vorgelegt werden, bevor die Seeleute auf Landgang gehen.
"Farbige sind als solche zu bezeichnen!" Diese Anweisung auf einem Handzettel offenbart Amenda zufolge die rassistische Stoßrichtung des neuen Gesetztes. Die Polizei versucht zudem mit Massenausweisungen die in ihren Augen unerwünschte chinesische Einwanderung zu unterbinden, da sie den Rauschgifthandel (Opium) und sonstige illegale Machenschaften der Einwanderer fürchtet.
"St. Pauli’s China hat noch keinem Gast ein Leid angetan, Ruhe, Friede und ein ewiges Lächeln ist sein Gesicht. Ob es aber auch seine Wahrheit ist, kann niemand sagen. […] Ob sie wirklich dem Opium frönen oder der zweiten großen Nationalleidenschaft, dem Glücksspiel, nachgehen, keiner vermag es zu sagen." Lokaldichter Ludwig Jürgens: Chinesenviertel, 1930
NS-Herrschaft: Beziehungen zu deutschen Frauen als Ausweisungsgrund
Kurz nach Beginn der NS-Herrschaft entlassen Hamburger Reedereien ihre rund 600 chinesischen Heizer, ob in vorauseilendem Gehorsam oder auf Anweisung ist unbekannt. Im Jahr 1938 wird eine Zentralstelle für Chinesen im Reichskriminalpolizeiamt in Berlin eingerichtet. Hamburg und Bremen werden angewiesen, gegen eine verstärkte Einwanderung von Chinesen "besonders scharf" vorzugehen. Die rassenpolitische Ausrichtung tritt in Punkt 12 des Erlasses zutage, nach dem "Chinesen, die mit deutschen Frauen zusammenleben oder mit ihnen uneheliche Kinder erzeugt haben", die weitere Aufenthaltserlaubnis zu verweigern sei und sie aus dem Reichsgebiet auszuweisen seien. Konkrete Auswirkungen seien in der Folgezeit durch vermehrte Razzien im Hamburger Chinesenviertel zu spüren gewesen, so Amenda.
Chinatown im Kino: "Große Freiheit Nr. 7"
Hamburgs Chinatown schafft es derweil trotz aller Repressionen sogar auf die Leinwand. Im 1943/44, also kurz vor der Chinesenaktion, produzierten Spielfilm "Große Freiheit Nr. 7" findet sich eine längere Szene, die in einem Lokal namens "Shanghai" spielt. Dort reift der Entschluss Hannes Krögers, gespielt von Hans Albers, wieder zur See zu fahren.
Häufigere Razzien und weggefallener diplomatischer Schutz
Während Große Freiheit Nr. 7 gedreht wird, verfolgen Polizei und Gestapo chinesische Migranten in Hamburg immer brutaler und führen nun noch häufiger Razzien in den chinesischen Kreisen durch. Mit der Kriegserklärung der Chinesischen Republik an Deutschland 1941 war der zuvor so wichtige diplomatische Schutz weggefallen. Auch der alliierte Bombenkrieg ab 1943 beeinträchtigt das Leben der chinesischen Gemeinschaft. Wie die vielen tausend Zwangsarbeiter dürfen chinesische Männer bei Alarm nicht die Luftschutzbunker aufsuchen, so Amenda. Am 13. Mai 1944 gipfelt die staatlich gelenkte Repression in der "Chinesenaktion". An der Ecke Schmuckstraße/Talstraße informiert eine Gedenktafel über die Historie und das brutale Ende des Chinesenviertels.
Misshandlungen und schwere Zwangsarbeit
Historiker Amenda hat den Weg der Festgenommenen rekonstruiert. Sie werden demnach vorerst ins Gestapo-Gefängnis Fuhlsbüttel verschleppt. Dort misshandelt der Gestapo-Beamte Erich Hanisch die chinesischen Gefangenen auf brutalste Weise. Hinter dem offiziellen Vorwurf der "Feindbegünstigung" sieht Amenda die kollektive Verfolgung in Wahrheit als Ergebnis und logische Konsequenz der NS-Rassenpolitik. Dies habe sich auch darin gezeigt, dass Hanisch deutsche Partnerinnen chinesischer Männer drangsalierte und einige von ihnen ins KZ Ravensbrück einwiesen ließ.
Im Herbst 1944 überstellt Hanisch eine Gruppe von ca. 60 bis 80 chinesischen Gefangenen in das Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg. Dort müssen die Männer schwere Zwangsarbeit in umliegenden Betrieben wie Raffinerien, beim Gleisbau oder der Trümmerbeseitigung leisten. Exzessive Gewalt und völlig unzureichende Ernährung zehren die Kräfte der chinesischen Gefangenen aus. Mindestens 17 von ihnen sterben an den Folgen des NS-Terrors.
Keine Wiedergutmachung: "Chinesenaktion" sei nicht rassistisch begründet
Eine Entschädigung oder Wiedergutmachung für die Zeit in Haft erhält keiner der Überlegebenden. Chong Tin Lam kämpft jahrelang dafür - doch vergebens. Die "Chinesenaktion" wird in der Bundesrepublik wie ein gewöhnlicher polizeilicher Vorgang behandelt und nicht als rassistisch motiviert anerkannt.
Das Wiedergutmachungsamt nimmt 1950 wie folgt Stellung zur "Chinesenaktion":
"Sie war in ihrer Form typisch nationalsozialistisch, sie war dieses aber nicht in ihrer Richtung." Stellungnahme des Wiedergutmachungsamts, 1950
Darin sieht Historiker Amenda einen Fehler: "Anhand der Dokumente, die überliefert sind, lässt sich ganz klar erkennen, dass sich die Gestapo-Beamten als eine Art Rassekrieger empfunden haben und die NS-Rassenpolitik auch gegenüber den Chinesen durchsetzen wollten." Die "Chinesenaktion" nicht als Verfolgung anzuerkennen, habe die Opfer ein zweites Mal gedemütigt.